Lochmeister ist ein hochgewachsener, schlanker End-Fünfziger. Das graue Haar ist sauber gescheitelt und ordentlich kurz geschnitten. Er trägt blaue oder graue Anzüge, weiße Hemden und etwas aus der Mode gekommene Krawatten. Tadellos in jeder beruflichen Lage. Jeder Situation souverän gewachsen.
Lochmeister hat die Gesellschaft für Rückversicherungen im Gesamtkonzern vor siebenundzwanzig Jahren gegründet. Er ist ihr Vorstand. Als sich Gerüchte mehren, dass Lochmeister angezählt sei, weil der Aufsichtsrat der Nummer zwei mehr vertraut, kann Lochmeister es nicht glauben. Niemand zählt ihn an. Er hat die Firma gegründet. Er ist ihr erster Mitarbeiter, wie er nicht müde wird, jedem zu erzählen, der es nicht hören will.
Also stellt Lochmeister sich im Rahmen der Firmenweihnachtsfeier auf die Bühne, hinter das Podest. Von oben herab. Groß ist er schon, mit der Bühne wirkt er noch größer, mit dem Podest noch unnahbarer für die Mitarbeiter, die ihm im Auditorium nicht auskommen.
„Auch wenn Sie hier Gerüchte hören, dass es mich hier nicht mehr lange geben soll, dann lassen Sie sich gesagt sein: Ich habe diese Firma gegründet“, Zeigefinger erhoben.
„Ich bin der erste Mitarbeiter dieser Firma. Der erste!“, Zeigefinger erhoben.
„Wenn sie mich hier raushaben wollen, dann müssen sie mich schon raustragen.“ Zeigefinger über das Publikum streichend.
Im Mai des folgenden Jahres erfährt Lochmeister einen Karriereschub. Auf den Aktienmärkten würde man von einer seitlichen Entwicklung sprechen. Wenn man es freundlich auslegen will. Lochmeister wird seines Vorstandspostens enthoben. Er wird zum internen Berater des Aufsichtsrates und des Vorstands befördert. Ein „weißer Elefant“, wie er im Buch steht. Man sieht ihn ab und zu durch die Gänge schleichen. Nicht mehr so groß. Ein bisschen gebeugter von der Last des Berater-Seins. Im September stolpert Lochmeister im Stiegenhaus. Er fällt sechs Stufen hinunter und bricht sich dabei den Knöchel. Am 29. September wird Lochmeister von der Rettung abtransportiert und aus der Firma getragen. Danach war er nie wieder zu sehen.
Learnings
Wahrscheinlich kennen wir alle einen ähnlich gelagerten Fall.
- Lochmeister sieht sich als Gründer, Architekt, Vater der Firma – und glaubt, diese Identität sei unantastbar. Doch Organisationen kennen keine emotionale Loyalität, nur strategische Interessen. Das Selbstbild ist mehr Hoffnung als Realität.
- Wer sich unersetzlich hält, verliert den Blick für die eigene Entbehrlichkeit. Lochmeister unterschätzt die Dynamik um sich herum. Er hält seinen Status für gesetzt, doch Systeme entwickeln sich weiter, auch ohne ihn. Oder gerade deswegen.
- Symbolik ist mächtiger als Worte. Sein Satz: „Dann müssen sie mich schon raustragen“ wird später buchstäblich Realität. Arroganz hat oft einen letzten Auftritt – nur nicht so, wie man ihn sich vorstellt.
- Machtverlust beginnt leise – und endet oft komisch. Das letzte Bild – ein Mann, gestürzt, gebrochen, von der Rettung aus dem eigenen Imperium getragen – ist eine Tragikomödie. Und ein Kommentar auf jene, die nie gelernt haben, loszulassen.
Ich frage Sie jetzt nicht, ob Sie selbst jemals in so einer Situation waren. Aber vielleicht kennen Sie die eine oder andere Karriere, die als „weißer Elefant“ geendet hat. Was haben Sie über die betroffene Person gedacht, was war Ihr Bild?
Haben Sie als Führungskraft schon einmal jemanden zum „weißen Elefanten“ befördert?
Hinterlassen Sie uns gerne Ihre Fragen, Gedanken und Anmerkungen dazu in einem persönlichen E-Mail.
Artikel erschienen am 07.05.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19652970/die-befoerderung