Schreiberl ist top motiviert. Er hat vom Vorstand als neuer Abteilungsleiter den Auftrag bekommen, die unternehmensweite Agilisierung voranzutreiben. Für die gesamte Organisation. Alle achttausend Mitarbeiter. In wenigen Wochen hat er ein kleines Team an willfährigen Genossen zusammengetrommelt. Er ist ihr Produkt Owner, wie das im agilen Jargon heißt. Alle sind, wie er, Agilisten der ersten Stunde. Frauen und Männer mit Sendungsbewusstsein wie ein Mobilfunkmast. Agile Fundamentalisten ohne Zweifel. Religiöse Eiferer. Er ist ihr Product Owner. Er ist „A-Man-on-a-Mission“.
In einer der vielen schlaflosen Nächten, in denen er sich adrenalingetränkt von einer Seite auf die andere wälzt, kommt ihm die Erleuchtung. Jetzt weiß er, was er wirklich zu tun hat. Er und das Team müssen ein agiles Organisationsmodell schaffen. Ganz klar. Für alle achttausend Mitarbeiter. Top-down etabliert.
Das Team organisiert den Know-How-Aufbau in allen möglichen agilen Organisationsmodellen. Kaum eines wird nicht betrachtet. Man besucht Schulungen. Man fährt zu Konferenzen. Man tauscht sich mit Referenzorganisationen aus. Man holt hochbezahlte Berater von namhaften Unternehmen. Am Ende des Tages hat das Team ein Modell erschaffen. Für alle achttausend Mitarbeiter. Jetzt muss Schreiberl das nur mehr dem Vorstand erklären. Dann rutschen alle achttausend Mitarbeiter in die neue Organisation. Das ist nur mehr Formsache.
Showdown beim Vorstand. In einem der monatlichen Strategietermine stellt Schreiberl stolz das Ergebnis vor. Er hat keinen der Vorstände im Vorfeld abgeholt oder deren Meinung eingeholt. Er lässt dort seine Bombe platzen. Er erwartet sich einen entsprechenden Krater. Er erwartet Standing-Ovations. Vielleicht sogar einen Direktor-Posten.
Jedoch, die Wirkung gleicht einer Blähung im Gegenwind. Die Vorstände zeigen keine Reaktion, nicken nur und widmen sich dem nächsten Tagesordnungspunkt. Kein Kommentar, keine Entscheidung, keine weitere Vorgehensweise. Nicht einmal ein „Nein“.
Eine Woche ist Schreiberl zutiefst deprimiert. Er fühlt sich unverstanden. Er kann nichts Essen, verliert drei Kilogramm und redet mit kaum jemanden. In einer der vielen schlaflosen Nächten, in denen er sich adrenalingetränkt von einer Seite auf die andere wälzt, kommt ihm die Erleuchtung. Jetzt weiß er, was er wirklich zu tun hat. Die Agilität im Unternehmen muss von unten wachsen. Evolutionär aus der bestehenden Organisation emergieren. Rekursiv, fraktal. Kann ja gar nicht anders. Er und sein Team müssen einfach nur gießen und düngen, damit Agilität von selbst entsteht. Sie sind die Gärtner. Die agile Organisation, ein blühender Garten. Ganz klar. Nicht am Gras zupfen bitte, das wächst so nicht schneller.
Er und sein Team organisieren Veranstaltungen, in denen Mitarbeitern spielerisch sich dem Thema nähern können. Angstfrei. Ohne Zwang. Er und sein Team organisieren einen Keynote Speaker zum Thema Agile. Der verteilt einen Tag lang agilen Glitter und Flitter von der Bühne wie eine Sprühkerze. Er und sein Team treten selbst mit dem Motto: „Gut – geil – agile“ auf die Bühne. Es gibt Broschüren. Aushänge in der Kantine. Ein paar Videoformate im Intranet. Es wird ein virtueller Marktplatz „Agile Market“ geschaffen, in dem sich die agilen Unterfangen im Unternehmen treffen können. Eine Plattform wird mit viel Aufwand im Intranet eingerichtet. Leute werden eingeladen, dort mit Inhalt beizutragen und ihre Zeit in das Thema zu investieren. Gegenseitige Learnings sollen dabei mit Freude, Andacht und Hingabe ausgetauscht werden. Eine große, agile Gemeinschaft. Alle mit dem gleichen agilen Mindset. Don’t do agile, be agile. Das ist ihr Motto. Das ist ihre Religion. Das verbindet sie.
Nach sechs Monaten folgt die Ernüchterung. Zwei Projekte tummeln sich auf dem virtuellen Marktplatz. Beide sind zur Hälfte aus dem agilen Team von Schreiberl besetzt. Seine Teammitglieder nicht mitgezählt, nehmen sieben Leute dort teil. Das sind jene sieben Leute, die Zeit dafür gefunden haben. Es gibt einen Grund, warum die Sieben Zeit haben. Es wurden in den ersten beiden Wochen drei Fragen auf der Plattform gestellt, die zu acht Antworten in Summe geführt haben. Danach herrscht Stille. Totenstille. Eine ähnliche Plattform im Unternehmen zum Austausch des Essverhaltens von exotischen Salzwasserzierfischen hat viermal so viele Zugriffe zu verzeichnen. Eine Niederlage. Schreiberl hat auf Asphalt gedüngt. Da wächst nichts. Gar nichts. Kein agiler Garten in Sicht. Wüste.
In einer der vielen schlaflosen Nächten, in denen er sich adrenalingetränkt von einer Seite auf die andere wälzt, kommt ihm die Erleuchtung. Jetzt weiß er, was wirklich Sache ist. Die Vorstände sind natürlich schuld. Er ist das Opfer. Agile ist das Opfer. Die Vorstände hätten viel mehr hinter der Sache stehen müssen. Dort fängt der Fisch zu stinken an. Schreiberl kann nur die Konsequenzen ziehen.
Er kündigt. Er wechselt das Unternehmen. Er wechselt die Branche. Er wird geholt, um eine unternehmensweite Agilisierung voranzutreiben. Er ist der Spezialist, der das schon oft gemacht hat. Er ist top motiviert. Es kann ja gar nicht anders sein, als dass das funktioniert. Schließlich ist das jetzt sein fünfter Anlauf bei fünf Firmen. Irgendwann muss das ja aufgehen.
Learnings
Agile Organisationen waren in den letzten Jahren ein heißes Thema. Dabei gab es viele Heilsversprechen und tatsächlich auch viele gute Dinge, die passiert sind. Wie immer liegt die Wahrheit in der Mitte und ist differenziert zu betrachten. Aber das hat schon Aristoteles in seiner Mesotes-Lehre vor über 2300 Jahren festgehalten. Hier ein paar Punkte:
- Agilisierung lässt sich nicht erzwingen. Ein top-down verordnetes agiles Modell erzeugt kein Commitment, prallt von der Organisation ab und das ist gut so. Es ist eine heillose Selbstüberschätzung, so ein komplexes Problem top-down im Alleingang angehen zu wollen.
- Ein evolutionärer Bottom-up-Ansatz ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen ist ebenso zum Scheitern verurteilt. Die Evolution ist ein nicht zielgerichteter Prozess, der viel, viel Zeit braucht. Organisationen haben ein Ziel und wenig Zeit. Der richtige Trade-Off im Spannungsfeld zwischen top-down und bottom-up ist entscheidend. Was muss vorerst spielerisch gelernt werden, was muss gestaltet werden, was darf wachsen? Es gibt Wege, die sind kontextabhängig und individuell je nach Organisation zu entscheiden.
- Agilität ist kein Selbstzweck. Nur weil „agil“ modern ist, bedeutet es nicht, dass es überall sinnvoll ist. Wie heißt das Problem, das „agil“ im konkreten Kontext lösen soll?
- Das Management muss natürlich dahinterstehen. Es ist aber auch eine weit verbreitete Ausrede, dass es nicht gut funktioniert hat, weil dem nicht so gewesen wäre. Es muss dahinterstehen, es muss sich nicht zu agilen Kasperl machen.
- Eine andere oft vernommene Aussage ist: „Bei uns passt das Mindset nicht, sonst würde es funktionieren“. Die Frage ist, was ist mit dieser Erkenntnis passiert? Welche Maßnahmen wurden dann abgeleitet? Ein Mindset Change Programm mit bunten Postern und Aushängen (siehe Pisar-Studie #4 Mindset Change)?
- „Die Definition von Wahnsinn ist: immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“, ein wohlbekanntes Zitat von Einstein. Fünfmal das Gleiche zu probieren, kommt da schon ganz gut hin.
Was sind Ihre positiven und negativen Erfahrungen, wenn Sie schon einmal mit „Agil“ in Berührung gekommen sind?
Kennen Sie eine Organisation, wo per Dekret alles „agilisiert“ wurde, ohne auf die eigentlichen Probleme einzugehen? Welche Blühten hat das getrieben?
Haben Sie vielleicht selbst schon einmal eine solche Initiative losgetreten? Entweder top-down oder als motivierte Gras-Root-Revolution? Wie ist es gelaufen?
Hinterlassen Sie uns gerne Ihre Fragen, Gedanken und Anmerkungen dazu in den Kommentaren oder in einem persönlichen Email.
Artikel erschienen am 12.03.2025 in der „Presse“: https://www.diepresse.com/19422323/toughes-management