#36 – Agile Traumräume

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 4 / Folge 6 .

Einmal im Jahr wird für alle agilen Fundamentalisten des Landes ein Traum wahr. In Linz wird eine Unkonferenz mit dem sprechenden Titel „Agile Traumräume – agile Tagträume – agile Traumtage“ abgehalten. Im Gegensatz zu einer Konferenz gibt es bei einer Unkonferenz keine fixe Agenda. Von den Veranstaltern wird lediglich der Rahmen für den Austausch zur Verfügung gestellt. Nach einem sozialpädagogisch wertvollen Einstiegsspiel zum gegenseitigen Kennenlernen in Kleingruppen kommen alle Konferenzteilnehmer zusammen und vereinbaren, wer an welchen Ort, zu welcher Zeit welches Thema vorträgt bzw. einen Workshop dazu abhält. Die restlichen Teilnehmer können sich dann überlegen, wo sie teilnehmen wollen. Die, die da sind, sind dann genau die richtigen. Wenn man das so sehen will. Die, die nicht mehr wollen, gehen einfach. Keiner ist böse. Der offene Austausch wird gefördert, es gibt keine Zwänge, alles ist frei, alles ist allen zugänglich. Diskussionen sollen gefördert werden.

Das Rahmenprogramm sieht jeden Tagesstart, gleich nach der zweistündigen Yoga-Übung, eine inspirierende Keynote vor. Die Keynotes sind in der Regel von Künstlern, Ex-Künstlern, Lebenskünstlern oder Unternehmern mit ausgewiesenen Bio- oder Fair-Trade-Zertifikaten. 

Am Büffet gibt es veganes Essen, Kräutertee und Bio-Kaffee. Ein Coke-Zero kann man lange suchen. Einen handgepressten Bio-Mangosaft aus regionalem Anbau findet man schon.

Es gibt Vorträge von den Teilnehmern zu Themen wie

  • Was wir in der agilen Transformation von der Rosenzucht lernen können
  • 83 Methoden zur Abhaltung einer Retrospektive in Abhängigkeit der Mondphasen
  • Wie Ausdruckstanz dein Scrum-Master-Sein unterstützen kann
  • Dürfen Produkt-Owner Empathie zeigen und wie können sie davon profitieren?
  • Kanban für Scrum-Fundamentalisten – der friedliche Weg
  • Antifragilität in der Organisation – der nächste Schritt nach Agil
  • Warum es mehr agiles Leadership im Top-Management braucht
  • Kalligrafie im Daily Stand-up
  • Flipchart-Malen für Fortgeschrittene (Einsteiger herzlich willkommen)
  • Gibt es gute Sternzeichen für Scrum-Master?
  • Schweigen im Sprint-Review. Der Weg zu mehr Gehör.

Einzelne Breakout-Sessions zu Themen „Loslassen können – gemeinsames Defäkieren im Wald“, „Psychologische Pathologien im Management erkennen“ oder „Schamanische Organisationsentwicklung I und II“ vertiefen nochmals den Inhalt. 

Am Abend gibt es ein großes Lagerfeuer, an dem Lieder der 70er-Jahre mit Gitarrenbegleitung gesungen werden. Manche bringen auch ihre eigenen Lieder mit, wo sie Songs mit ihren agilen Texten gecovered haben. Schön. Einige frönen dem hemmungslosen Ausdruckstanz. Andere ergehen sich bis in der Früh in philosophische Diskussionen über die Härten von Damenfußball, Scrum und dem Leben an sich.

Zwei Tage zwangloses und wertschätzendes Zusammensein unter Gleichgesinnten. Zwangloser und wertschätzender Austausch und gegenseitiges Lernen. Ohne Druck, ohne Timeline. Lediglich nach zwei Tagen ist der Ausnahmezustand vorbei und man muss wieder in die Realität zurück. Schade, irgendwie …

Aus der Perspektive eines Managers stellt sich das wie folgt dar: Agilisten-Woodstock in Linz. Leute in lockeren Gewändern erzählen sich Dinge, die keiner braucht. Die vegane Bio-Version einer Konferenz. Maximal wirkungsbefreit, meint Managementguru und CTO Conor McConor.

Learnings

Die Geschichte ist bewusst überzeichnet, irgendwo zwischen Satire und Karikatur. Wir hatten das Thema „Agil“ bereits in der einen oder anderen Studie. Es lassen sich auch aus der Geschichte Learnings ableiten, je nachdem, ob man die Brille der Agilisten oder die der Manager aufsetzt. Da ich in meiner Vergangenheit beides war, agiler Fundamentalist und Manager, nehme ich mir die Freiheit.

Agilität hat insbesondere in ihrer Anfangsphase eine eigene, fast schon religiöse Dynamik entwickelt. Es waren Sätze wie „Don’t do agile – be agile“ die dem Ganzen den Nimbus einer bottom-up Bewegung gegeben haben, an die viele Hoffnungen geknüpft waren. Das erzeugt auf der einen Seite Zugehörigkeit und viel positive Veränderungsenergie, auf der anderen Seite mehr oder weniger verhaltene Skepsis. Aus der Perspektive der Teilnehmer von Linz verkörpert eine Unkonferenz vieles von dem, was in Agil gesehen wird: Freiheit, Offenheit, Selbstorganisation, Kreativität und Wertschätzung. Alles sehr positiv aufgeladene Werte zu denen man nicht Nein sagen kann. Die aktive Abgrenzung durch Definition und Zurschaustellung des Ganzen führt zu einer Bubble und selbstreferenziellen Echokammer und in Folge zu einer Polarisierung. Meinungen wie „Mit Agil schaffen wir das Mittelmanagement ab“ tragen nicht gerade dazu bei, positiv im Mittelmanagement aufgenommen zu werden. Jede Form der Polarisierung erzeugt lediglich Reibung und Sand im Getriebe.

Management nimmt da einen utilitaristischen Standpunkt ein: Wenn es hilft, dann ist es gut, darf bleiben oder wird sogar gefördert. Wenn es noch dazu beiträgt sich selbst als modernen Manager oder Managerin darzustellen, dann wird es auch dazu verwendet. „Sehet her, ich kann auch Agil.“

Heute ist Agilität nicht mehr neu. Es ist wie Projektmanagement oder die funktionale Organisation. Es ist in vielen Unternehmen gelandet. Vielfach wird die Agilität für tot erklärt, dabei ist das Thema einfach nur angekommen und nicht mehr gehypt. Wenn etwas stirbt, dann ist es der überbordende Berater und Trainingsmarkt. Umgekehrt, auch Projektmanagement wird heute noch trainiert.

Nüchtern betrachtet sind drei Dinge wichtig, wenn wir an Agilität denken:

  • Eigenverantwortung übernehmen
  • Disziplin einhalten
  • Mehrwert für den Kunden bringen

Das ist nicht immer lustig. Aber wer Eigenverantwortung mit all ihren Konsequenzen übernimmt, erweitert seine Autonomie. Wer diszipliniert vorgeht, wird sich auch selbst weiterentwickeln. Wer regelmäßig für den Kunden Mehrwert liefert, hat auch selbst erfüllende Erfolgserlebnisse. Alles das sind Punkte die positiv auf die intrinsische Motivation von Mitarbeitenden einzahlen. Jetzt sind wir in einer konstruktiven und ungeschönten Win-Win Situation für Mitarbeitende und das Unternehmen. Nüchtern und wertschätzend betrachtet.

Meine Learnings aus vielen Jahren Agilität und Management:

  • Eine Bewegung erzeugt immer eine Gegenbewegung. Revolutionen finden nicht statt in Unternehmen. Alles, was bottom-up vorangetrieben wird, kommt nur so weit, wie es von top-down auch zugelassen wird. Jede Form von „Bubble“-Bildung ist dem eigentlichen Thema nicht zuträglich, wenn es um die Integration in ein bestehendes System geht.
  • Nur weil man etwas als Manager nicht kennt oder einem „schräg“ vorkommt, heißt es noch lange nicht, dass es nicht auch Nutzen stiften kann. Alle Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Was wie „wirkungslos“ aussieht, hat für die Teilnehmer hohen Wert: Inspiration, Vernetzung, Erleben von Freiheit. Wer nur auf die harten KPIs schaut, übersieht, dass Kulturarbeit oft subtil wirkt.

Agilität hat sehr viel verbessert, für Unternehmen und für Mitarbeitende. Es wurden bei weitem nicht alle Versprechen eingelöst. Das ist halb so schlimm, am Ende bleiben trotzdem eine Vielzahl an Benefits übrig. 

Wie steht es bei Ihnen um das Thema?
War oder ist es ein Diskussionspunkt in Ihrer Organisation? 
Wird das nüchtern oder emotional aufgeladen behandelt?

Artikel erschienen am 16.09.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/20106772/agile-traumraeume

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