Kurt. Seit Jahren sitzt er an derselben Stelle. Vor ihm drei Bildschirme, ein A0-Wandkalender und Zahlenkolonnen, die er nachts im Schlaf herunterbeten könnte. Er plant die Fertigung. Über dutzende Trassen, rollierend, vier Wochen im Voraus. Hat die Willkürplanung von Post-its auf ein strukturiertes, dokumentiertes System umgestellt. Alles planbar. Alles greift ineinander. Kein Zufall, keine Bauchentscheidung. Ein Uhrwerk, von dem man sich in der Schweiz noch was abschauen könnte.
Die Leute unten in der Halle wissen: Wenn Kurt den Plan schreibt, läuft’s. Punkt.
Wäre da nicht der Chef.
Der Chef, der nach jedem Lunch mit einem „strategischen Partner“ hereinstolpert, die Krawatte voll mit Pastasauce und den Kopf voll mit intuitiven Eingebungen. „Kunde Krowtnicyz, ab sofort Priorität 0“.
Koste es, was es wolle. Es kostet immer was. Verschub bei anderen Lieferungen, Pönalen, Qualitätseinbußen, weil etwas reingedrückt wurde. Am Ende kostet es Kunden, die den Lieferanten wechseln. Egal, Hauptsache der Chef hat sich als tatkräftiger Manager geriert, der auch mal gegen den Strom schwimmt. Mutige Entscheidungen trifft. Immerhin hat er es im Urin oder sonst wo, was gut ist für das Geschäft.
Ein paar traurige Spritzer der Sauce sind auf Kurts Hemd gelandet. Wen wundert’s, heißt halt nicht Huber, der Kunde.
Wäre da nicht die Vertriebsleiterin.
Die Vertriebsleiterin, die am Freitag um 16:59 Uhr noch schnell ein Mail schickt: „Neue Deadline für Lieferung KLA.2067-EF7 Montag früh. Wir verlieren sonst den Kunden.“
Natürlich CC an den Chef. Kann keiner mehr widersprechen. Das Einzige, was verloren gehen würde, ist ihr Quartalsbonus, wenn das Ding nicht am Montag rausgeht. Schließlich ist es Ende September. Es kommt der Herbst und ihr Porsche braucht neue Winterreifen. Plus Felgen.
Wäre da nicht die Disponentin.
Die, die eigentlich nur die Planung abstempeln sollte. Sie hat in den 90ern ein Seminar über „Lean Production für ultimative Einsteiger“ besucht. Leider nur den ersten von fünf Tagen. Egal, sie weiß alles und noch besser. „Das geht sich schon aus, wenn wir heute Nacht auf der 2er-Trasse umrüsten, das fängt dann die 7er-Trasse ab 22.20 Uhr auf.“
Ja genau.
Und so fliegt jede Woche alles auseinander. Maschinen blockiert. Schichten überlastet. Aufträge verschoben, verdreht, verkorkst. Kurt baut es jedes Mal neu auf. Geduldig, stoisch, als könnte Vernunft allein gegen Wahnsinn kämpfen.
Die Arbeiter unten lachen längst nur noch. „Wart’s ab“, sagen sie, „wenn die da oben wieder auf Urlaub sind, läuft’s wie geschmiert.“ Und tatsächlich: In den Sommerwochen, wenn Chef, Vertrieb und die allwissende Disponentin am Strand liegen, funktioniert alles perfekt. Keine Störungen. Keine Eskalationen. Nur Plan und Ausführung. Urlaub für Kurt. Im Büro, alles ruhig. Diese paar Wochen sind sein Sauerstoff, damit er das restliche Jahr übersteht. Ohne diese Wochen geht es nicht. Kurt braucht die Bestätigung, dass er alles im Griff hat.
Bis zu diesem Sommer. Der Chef macht Urlaub in Italien – inklusive Italientief, so zäh wie ein Reizhusten im November. Die Vertriebsleiterin hat sich am ersten Tag in der Therme von ihrem 10 Jahre jüngeren Lover getrennt, weil er einer Gleichaltrigen nachgeschaut hat. Die Sachbearbeiterin wollte eine Freundin in Hamburg besuchen. Die Freundin wollte das aber nicht. Ein dummes Missverständnis. Jetzt haben sie alle viel Tagesfreizeit, überbordende Motivation und ein Handy.
Da wurde es selbst Kurt, dem Inbegriff des Stoizismus, zu viel. Ende Gelände. Er hat nur mehr eines geplant – seinen Abschied. Schreibt sein erstes und letztes Post-it seiner Karriere und klebt es dem Chef auf die Bürotür: „Mocht‘s eich den Dreck söba.“
Learnings
Die Geschichte ist reich an Learnings, hier die wesentlichen rausgepickt:
- Wenn wir nur die Aufgabe von Kurt betrachten, dann befinden wir uns vor einem komplizierten System. Kompliziert heißt in dem Zusammenhang, dass die Dinge nach vorne gut berechenbar sind. Ein Plan ergibt einen Sinn, weil er die Dinge für alle klar macht. Es sind wenig Unwägbarkeiten enthalten. Gut geplant läuft das System wie ein Uhrwerk.
- Wenn wir das gesamte System betrachten, dann ist dieses, durch die mannigfaltigen Einmischungen komplex (nicht nach vorne berechenbar. Wer Genaueres zu kompliziert und komplex wissen will, googelt „Cynefin“), fast schon chaotisch. Die diversen ad hoc Entscheidungen, Umpriorisierungen und inkompetenten Eingriffe zerstören den Plan und sorgen nachhaltig für Schaden für das Unternehmen.
- Der Chef sieht die Konsequenzen nicht, weil sein Zeithorizont (vielleicht auch der geistige) so weit nicht geht. Die Vertriebschefin ist zufrieden mit neuen Winterreifen und die Disponentin zieht ihr Dopamin aus dem Machtgefühl.
- Der Druck der Vertriebsleiterin ist auch wiederum auch nachvollziehbar: Sie bekommt mehr Geld, wenn der Auftrag früher fertig ist. Da geht es um ihr Geld. Das System sieht das so vor und triggert damit ein Verhalten, dass dem Unternehmen schadet. Strukturen prägen Verhalten und nicht immer ein gewünschtes.
- Unternehmen sind nur vordergründig Uhrwerke, also kompliziert. Durch die Beimengung von sozialen Elementen, also Menschen, die Gefühle, Intentionen, private Begehrlichkeiten, etc. haben, werden sie unweigerlich komplex, also nicht berechenbar.
- Wenn man schon das Glück hat, dass ein Teil der Arbeit kompliziert (und nicht komplex) und somit planbar ist, dann sollte man das nutzen. Das ist klar das Spielfeld der Experten. Denen sollte man es überlassen und ihnen vertrauen. Kurt ist der Experte, die Disponentin ist es nicht. Es ist Führungsverantwortung, das zu erkennen.
- Zwei einfache Regeln für komplizierte Dinge
- Die 1. und oberste Regel: nicht in den operativen Betrieb einmischen.
- Die 2. Regel: auf der Gesamtsystemebene verfolgen, wie die Dinge laufen. Großwetterkarte. Wenn es mal nicht so läuft, bei den Experten die richtigen Fragen stellen, um sie aus einem potenziellen Expertendogmatismus rauszuholen und zu überprüfen, aus welchen Gründen auch immer, das System von kompliziert zu komplex gewechselt hat. Ist das System komplex, ist Planung die falsche Antwort.
- Jeder Mensch hat nur ein endliches Limit, Umstände auszuhalten. Kurt, als Parade-Stoiker, ist da sehr weit, aber irgendwann reißt auch ihm die Hutschnur.
Kennen Sie Situationen, wo ein guter Plan durch Obrigkeitsintervention in Sekunden pulverisiert wurde?
Haben Sie sich bei Entscheidungen gefragt, welche Interessen da dahinterstecken, die des Unternehmens oder die, die bonusgetrieben sind? Haben Sie selbst schon einmal mit dem Finger Gottes eingegriffen und die Experten überstimmt? Wie ist es ausgegangen – ehrlich?
Artikel erschienen am 10.09.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/20082027/der-beste-chef-ist-im-urla