Tapezierer arbeitet seit 35 Jahren im Rechenzentrum. Seit 35 Jahren ist er für die Erstellung der Backups zuständig. Tapezierer ist perfekt. Der Backup-Prozess läuft im Rechenzentrum in der Magnetbandstation ab.
Vor eineinhalb Jahren wurde der Prozess auf eine neue Technologie umgestellt. Das neue System TLP PH 200XZ-Hyperdrive kommt zum Einsatz. Tapezierer ist nicht mehr für den ganzen Backupprozess verantwortlich, sondern lediglich für den Wechsel und den Transport der Magnetbänder in das Notfallrechenzentrum. In der Nacht läuft automatisiert der Backupjob, der auf die von Tapezierer eingelegten Magnetbänder, die Systeme und Daten abzieht. Neubauer aus der Systemadministration ist für den Job zuständig. Ein Barcode auf den Bändern stellt sicher, dass kein falsches Band beschrieben wird. Alle sieben Tage wird ein zusätzliches Wochenbackup als Kopie des Tagesbackups erstellt, alle vier Wochen ein Vierwochenbackup, das für zehn Jahre aufbewahrt wird. Sobald Tapezierer in der Früh in die Magnetbandstation geht und dort alles grün leuchtet, ist für ihn klar, dass der nächtliche Backupjob gelaufen ist. Grün heißt, kein Job ist aktiv. Tapezierer hat noch nie erlebt, dass der Job noch nicht fertig gewesen wäre. Perfekt. Richtig perfekt.
Dann beginnt sein Tageswerk. Die Backupbänder werden von Tapezierer aus der Station entnommen und die nächsten Bänder für die folgende Nacht eingelegt. Sie werden alle feinsäuberlich maschinell beschriftet und mit Barcodes versehen. Danach transportiert er die Magnetbänder täglich in das Notfallrechenzentrum. Tapezierer ist perfekt und hat System.
Er führt ein Journal über die Tagesroutine in seinem Büro. Die Unterlagen sind feinsäuberlich ausgedruckt und in einem grauen Aktenschrank hinter dem Arbeitsplatz von Tapezierer abgelegt. Grüne Ordner für die Tagesbackups. Gelbe Ordner für die Wochenbackups. Blaue Ordner für die Vierwochenbackups. Die Ordner sind perfekt beschriftet. Maschinell. Die Papiere feinsäuberlich in Klarsichtfolie für die Ewigkeit eingeschweißt. Tapezierer hat dafür ein eigenes Schweißgerät. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Die Ordner hängen als stumme Zeugen seines Wirkens alle exakt ausgerichtet in dem grauen Aktenschrank. Tapezierer ist perfekt und hat System.
Eineinhalb Jahre nach der Einführung der neuen Technologie TLP PH 200XZ-Hyperdrive findet ein personeller Wechsel in der Systemadministration, die für den automatisierten, nächtlichen Backupjob verantwortlich ist, statt. Neubauer geht in die wohlverdiente Pension. Ein junger Mitarbeiter, Schauhuber, übernimmt seinen Verantwortungsbereich. Tapezierer trifft Schauhuber zufällig in der Kantine. Man trinkt Kaffee, plaudert und lernt sich kennen.
Schauhuber: „Und, was machst du so in der Bude?“
Tapezierer: „Ich war mal für den gesamten Backupjob verantwortlich. Jetzt wechsle ich nur mehr die Bänder.“
Schauhuber: „Welchen Backupjob?“
Tapezierer: „Der ist bei Euch in der Verantwortung. Da war Neubauer zuständig.“
Schauhuber: „Der hat mir eigentlich alles von ihm übergeben. Backupjob war da keiner dabei.“
Tapezierer: „Das denke ich mir seit eineinhalb Jahren, dass der nie live gegangen ist.“
Zuckt mit den Achseln. Steht auf. Geht. Wortlos und beschriftet mit seinem perfekten System weitere perfekt leere Bänder.
Learnings
Die Geschichte „Backups“ trägt mehrere vielschichtige Learnings in sich, teils auf organisationaler, teils auf individueller Ebene. Hier sind die zentralen Erkenntnisse:
- Innere Kündigung und stille Subversion.
Tapezierer weiß genau, dass das System nicht funktioniert. Es wäre ein leichtes, das aufzuzeigen. Aber er entschließt sich dagegen. Schließlich hat man seine Verantwortung beschnitten. Was von außen wie eine logische Konsequenz aussieht, ist es für die Betroffenen oft nicht. - Verantwortung.
Man hätte Tapezierer auch weiterhin für den gesamten Backupjob verantwortlich lassen können. Die Aufteilung der Verantwortung führt dazu, dass keiner von Anfang bis zum Ende zuständig ist. - Routine als Illusion von Sicherheit.
Nur weil etwas täglich stattfindet, muss es weder sinnvoll sein noch sinnvoll laufen. Es zahlt sich aus, die Dinge ab und an zu hinterfragen. - Systemisches Versagen.
Am Ende bleibt die Absurdität an Einzelpersonen haften: Neubauer hat „vergessen“. Schauhuber „merkt es“. Tapezierer „macht halt seinen Job“. Aber das wahre Problem ist: Das System war nie in der Lage, den Fehler zu erkennen. Im schlimmsten Fall ändert sogar keiner etwas daran. Wer will schon so etwas Peinliches aufdecken.
Haben Sie in Ihrer Organisation schon erlebt, dass jemand etwas wusste, aber nichts sagte, weil es offiziell nicht mehr seine Zuständigkeit war? Haben Sie sich selbst schon dabei ertappt, eine Aufgabe perfekt auszuführen, obwohl Sie wussten, dass sie völlig sinnlos war? Kennen Sie das Gefühl, dass „alles läuft“, nur weil niemand eine Störung meldet?
Artikel erschienen am 30.07.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19941841/nicht-meine-zustaendigkeit