#28 – Alles machen, nur nix fertig.

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 3 / Folge 8.

Leberstein ist CIO. Schon lange. Früher war er IT-Leiter. Jahrelang. Jahrzehntelang. Seit drei Jahren ist er Chief Information Officer. Es steht auf der Visitenkarte. Auf Englisch. Das macht was her. Früher war alles kleiner. Leberstein hatte fünf Leute, die haben Telefone bestellt, Laptops ausgegeben, allerdings nur für die drei Geschäftsleiter, die heute C-Level heißen, Standgeräte und Drucker installiert und mit Microsoft über das Betriebssystem und Office verhandelt. Damals hatte man noch Geräte. Heute hat man die Cloud.

Die Digitalisierung ist gekommen. Davor war sie schon überall. Jetzt auch hier. Wie der Schnupfen im November. Jetzt ist alles digital. Auch das Produkt, das die Firma verkauft. Keiner weiß wie, aber: digital. Und jetzt stehen sie alle da: Sales, früher Verkauf, Marketing, Product Development, das gab’s gar nicht, die Filialen, der Vorstand, pardon, der C-Level. Und alle wollen was. Irgendwas. Gleichzeitig. Alles gleichzeitig. Alles sofort. Einiges soforter.

Früher hatte man zwei Projekte im Jahr. Eine neue Windows-Version und das Warenwirtschaftssystem. Alle paar Jahre mal. Jetzt hat Leberstein 54 Projekte. Für 22 Leute in seiner IT. Vier bis sechs Leute durchschnittlich pro Projekt. Die sind komplex, diese Projekte. Da muss man keine höhere Mathematik mit Kurvenintegralen in mehrdimensionalen, gekrümmten Riemann-Räumen anwenden, um zu sehen: Das geht sich nicht aus. Knapp nicht.

Projektleiter gibt es keine. Braucht man auch nicht. Geht auch so. Der Fachbereich hat ohnehin alles aufgeschrieben: 1.384 Seiten PowerPoint mit 3-D-Effekten, Schattierungen, siebzehn Schriftarten und Cliparts. Bunt wie ein Regenbogen und natürlich animiert und mit dramatischen Folienübergängen. Anforderungen nennen die das. Kraut und Rüben, denkt Leberstein. Mitarbeiten will dann keiner mehr von den Fachbereichen. Ist ja aufgeschrieben. Die IT soll’s machen. So wie früher. Nur halt digitaler.

Projekt-Portfolioplanung, das ist die Lösung. Hat ihm so ein Fuzzi gesagt, den er kürzlich auf einer Konferenz getroffen hat. Ein ganz ein Schlauer, denkt Leberstein. Aber was soll’s. Also schreibt er alle Projekte auf. In ein langes Excel-Sheet. Excel ist geduldig. Excel ist sein Freund.

Dann überlegt er sich eine Priorisierung. Prio 1 ist das Wichtigste. Prio 2 das Wichtige. Prio 3 das weniger Wichtige. Prio 4 ist unwichtig. Mit der Liste und der Kategorisierung macht er ein großes Meeting: mit dem Vorstand, pardon, dem C-Level, dem Sales, dem Marketing, dem Product Development. 

Das Ergebnis ist eindeutig:

  • Sieben Projekte sind Prio 4. Alles Projekte, die die IT braucht: Security, IT-Automatisierungen, Betrieb.
  • Kein Projekt ist Prio 3.
  • Vier Projekte sind Prio 2.
  • 43 – dreiundvierzig – Projekte sind Prio 1, also am wichtigsten.

Klares Ergebnis, denkt sich Leberstein. Was frage ich auch.

Einmal macht er noch die Rechnung. Er hat drei Leute, die machen Service und Betrieb. Drei Leute in der Security. Zwei Leute sind sogenannte Business Partner. Die reden mit den Fachbereichen und schauen darauf, dass das Chaos eingedämmt wird. All diese Leute sind schon gut überfordert. Er hat vier Führungskräfte. Bleiben ihm von zweiundzwanzig Leuten zehn, die an Projekten arbeiten können. Die können circa vier bis fünf Projekte gleichzeitig stemmen. Wenn es sinnvoll bleiben soll. Von der Anforderungsabstimmung über Analyse, Design, Umsetzung, Testen bis zur Inbetriebnahme. Vier bis fünf gleichzeitig. Aber nicht mehr. Sagt die Kapazitätsabschätzung. Sagt auch der Hausverstand.

Versteht keiner. Will keiner verstehen. Es ist der Versuch, mit dem ICE in einen Gartenschlauch zu rasen.

Aber es gibt eine Lösung. Der Vorstand, pardon C-Level, hat ChatGPT ausprobiert. Privat. Jetzt weiß er, dass in der Zukunft alles automatisch geht. Mit KI. Das macht alles die Cloud. Und so. Leberstein soll mehr KI einsetzen. Und in die Cloud gehen. Außerdem soll die IT endlich agil arbeiten. Leberstein soll weniger herumsudern und machen. Zusätzlich, natürlich.

Der Workshop mit dem Vorstand, pardon C-Level, und den Fachbereichen war vor zwei Tagen. In der Zwischenzeit sind drei neue Themen vom C-Level reingekommen. Priorität der Projekte: Null – sogenannte C-Level Priority. Brandneu erfunden. Am allerwichtigsten. Der richtig heiße Scheiß.

Zu Hause legt Leberstein die Füße hoch. Er schenkt sich ein Viertel ein. Ein Viertel, das von der Farbe her auch dem Herrn Qualtinger gefallen hätte.

In der Cloud sind die wohl schon alle. Zumindest hoch oben in den Wolken. In den Anforderungen höchst agil. Ob es nicht klüger wäre, die künstliche Intelligenz im C-Level einzusetzen, denkt Leberstein. Als Upgrade, sozusagen. Natürliche scheint ja nur in kleinen Dosen da zu sein.

Learnings

Ich hoffe, dass diese Geschichte nur eine Geschichte ist. Ich habe sie auf jeden Fall erfunden. Aber nehmen wir mal an, so etwas gibt es, dann können wir ein paar Dinge daraus lernen:

  • Digitalisierung hat Einzug in viele Organisationen und deren Strategie gefunden. Das sorgt für einen erhöhten Bedarf an IT-Ressourcen. Also, wer digitalisieren will, braucht auch Mannschaft. Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Wünsche sind unendlich, Kapazitäten sind das nicht.
    Es bedarf einer Fokussierung, das heißt, dass Projekte NICHT gemacht werden, weil sie unter eine rote Linie rutschen. Das Nicht-Machen muss oft strikt eingehalten werden. Nicht einmal durfte ich erleben, dass Projekte, die außerhalb des aktuellen Fokus waren, in Schwarzarbeit weitergeführt wurden.
  • Priorisierungen sind oft politisch. Aber besser eine politisch motivierte Priorisierung als keine. Priorisierung heißt, dass Dinge in eine Reihenfolge gebracht werden müssen, also Rang 1, Rang 2, Rang 3, … Jedes Projekt nur einen Rang bitte. Das ist wie bei der Ausgabe der Kreuze im Film „Das Leben des Brian“. Klassen von „Wichtig“ bis „Unwichtig“ sind nicht hilfreich.
  • Ein wilder Haufen an Anforderungen ersetzt nicht Mitarbeit. Die enge, um nicht zu sagen crossfunktionale Zusammenarbeit zwischen Fachbereich und IT ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor gelingender Projekte.
  • Das Portfolio ist die fleischgewordene Strategie. Dort spiegelt sich wider, was die Organisation exekutieren soll. Das Portfolio muss dementsprechend Bezug zur Strategie habe, ein Punkt, der gar nicht in der Geschichte vorkommt. Im Gegenteil, es werden kurzfristig neue Projekte vom C-Level erfunden.
    Im Sinne des Fokus muss es heißen: „Stop starting – start finishing“. Ein neues Projekt kann nur gestartet werden, wenn ein bestehendes abgeschlossen wird.
  • Ein Projekt ohne Projektmanagement ist wie ein Glas Wasser ohne Glas. Nicht alles muss immer ein Projekt sein und nicht jedes Projekt muss alle Methoden des Projektmanagements einsetzen. Aber ein Mindestmaß sollte vorhanden und als Verantwortung verankert sein. Dort, wo der eigentliche Bedarf liegt, im Fachbereich. In der Geschichte erleben wir gelebte Verantwortungslosigkeit.
  • Auch die IT braucht Projekte, um ihrer Verantwortung nachzukommen. Die dürfen nicht alle nach hinten priorisiert werden, sonst häuft sich die Betriebsarbeiten an und zukünftige Projekte für den Fachbereich werden noch schwieriger.
  • Es ist schön, wenn Management Ideen entwickelt und neue Impulse setzt. Das ist auch zum Teil die Aufgabe. Bitte dann aber nicht mit realitätsfernen Erwartungen verknüpfen. Moderne Buzz-Word Rhetorik und Bullshit-Bingo sind nicht hilfreich.
  • Leberstein entwickelt einen gewissen Zynismus. Die Zyniker in der Organisation sind oft jene Leute, die einen Missstand klar erkennen, nicht gehört werden, aber noch nicht aufgegeben haben. Das sind jene Leute, die noch ein Feuer oder zumindest einen Funken in sich verspüren, darauf hinzuweisen. Auf diese Menschen sollte man hören. Alle anderen, die in die innere Kündigung diffundiert sind, sind längst zum Schweigen übergegangen.

Ein Projektportfolio kann ein sehr starkes Instrument der Strategie-Umsetzung sein. Dafür muss es aber ein paar Eigenschaften, wie Fokus, Priorität, Beteiligung aller und Vollständigkeit aufweisen.

Haben Sie in Ihrer Organisation einen Mechanismus, wie die Strategie zur Umsetzung kommt? Kennen Sie Unternehmen, in denen die IT einfach mit Arbeit ohne Priorität angesteuert wird? Arbeiten Sie vielleicht in einer IT, wo das so ist, und wie fühlt sich das an?

Artikel erschienen am 22.07.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19925986/alles-machen-nur-nix-fertig

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