#24 – Bürokratie

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 3 / Folge 4.

Korn ist das, was man keinen schönen Menschen nennt. Von mittlerer Größe, dicker Gestalt, Brillen wie zwei Aschenbecher, madiger Hautfarbe, leicht fettigen Lippen und kurzen fettigen Haaren. Immer eine speckige graue Anzughose. Den Gürtel zu eng und so weit oben, dass er den Bauch wie einen Apfel teilt. Ein weißes Hemd. Immer. Im Winter eine weinrote Lederjacke. Die Sachen schauen aus, als hätte er darin geschlafen. 

Er sitzt seit 35 Jahren an der gleichen Position in der Firma. Kraft dieser Ausdauer hat er einiges an Kompetenz in seiner Domäne aufgebaut. Nicht, weil er besonders schlau oder wissbegierig gewesen wäre. Nicht einmal der größte Vollidiot hätte verhindern können, dass das passiert.

Korn hat aber nicht nur dieses einzigartige Wissen, er ist auch Freigabeverantwortlicher stellvertretend für seinen Abteilungsleiter. Er ist für einen Teil des K2P-Prozesses verantwortlich. Alles, was da durchläuft, muss von ihm einen Haken bekommen, wie so viele andere Haken auch. Das wurde vor 23 Jahren so eingeführt und nie wieder hinterfragt. Korn hat nicht nur Wissen, sondern auch Macht. Er hat zwar kein Steuer, aber eine Bremse.

Das tut er. Bremsen. Je nach Laune. Alle wissen das. Es ist lästig, weil man bei ihm vorsprechen muss und ihm Sachen erklärt, die ihn nichts angehen und eigentlich nicht interessieren. Er hört zu. Er nickt. Oder auch nicht. Er kann das. Er hat die Macht. 

Keiner mag das. Aber keiner beschwert sich. 

Sein Abteilungsleiter hat ihn als Stellvertreter nominiert, somit hat der kein Problem. Das haben nur die anderen, die seinen Haken benötigen. Er ist lästig, aber nicht lästig genug.

Dann wird Korn krank. Nieren. Korn war noch nie davor krank. Fünf Wochen ist er zuhause. 

Die Anfragen landen alle bei seinem Abteilungsleiter. Jetzt ist es lästig, lästig genug. Er setzt sich hin. Hinterfragt den Prozess und eine Woche später ist der Prozess geändert. Der Haken ist weg. Korn ist raus. Nur Wissen, keine Macht. Keiner kommt mehr.

Nach einem Monat merken alle betroffenen Mitarbeiter, dass der Prozess spürbar geschmierter läuft. Nach einem Quartal hat sich die durchschnittliche Durchlaufzeit messbar um 30 Prozent verringert. 

Nach fünf Monaten verliert die Firma 5,2 Millionen Euro. Irgendein Idiot hat im Prozess geschlampt. Die Qualitätssicherung, die hat früher Korn gemacht.

Learnings

Kein Licht ohne Schatten, kein Schatten ohne Licht. Insbesondere das Thema Bürokratie wird in der heutigen Zeit oftmals sehr vereinfacht und unnötig moralisierend diskutiert.

  • Einen Prozess bzw. Prozessschritt 23 Jahre aus Bequemlichkeit nicht zu hinterfragen, muss nicht weiter erwähnt werden.
  • Bürokratie unterliegt, wie alle Systeme, dem Selbsterhaltungstrieb. Wenn man nicht aufpasst, dann wird sie über die Zeit anwachsen.
  • Korn nutzt seine Macht aus und agiert willkürlich. Genau das, was man mit Bürokratie unterbinden will. Es sind immer die Regeln und die Menschen im System.
  • Probleme werden oftmals erst dann gelöst, wenn diese persönlich betroffen machen. Solange man nicht selbst darunter leidet, ist das Animo etwas zu verändern gering.
  • Bürokratie hat einen Sinn. Sie soll unter anderem Regeln aufstellen, um Berechenbarkeit, Wiederholbarkeit und Qualität sicherzustellen. Nicht alles, wo Bürokratie draufsteht, ist schlecht. Vieles davon trägt tatsächlich zum Unternehmenserfolg positiv bei.

Wie viele Regeln in ihrem beruflichen Kontext sind hilfreich?

Wie viele sind da, weil sie schon immer da waren?

Haben Sie schon einmal etwas gestrichen, das sich im Nachhinein als hilfreich herausgestellt hat?

Artikel erschienen am 25.06.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19823598/buerokratie

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