Kacken. Kacken ist immer gut, um nachzudenken. Und CEO Kippler muss nachdenken. Der groß angekündigte Mindset-Change hat exakt nichts gebracht. Es ist alles beim Alten geblieben. Ein Jahr später, und das Einzige, das sich verändert hat, ist das Datum.
Aber beim Kacken geht immer was – auch intellektuell. Er scrollt auf LinkedIn und stolpert über einen Beitrag: „Start with Why – Echt jetzt?“ Viel zu lang, um das zu lesen, aber schlagartig wird ihm klar: Das Unternehmen braucht einen Purpose. Sie brauchen ein Why. Die Mitarbeitenden brauchen einen Purpose. Geht gar nicht anders. Das hat bis jetzt gefehlt. Kein Wunder, dass sich das Mindset nicht geändert hat.
Gleich nach dem Prozess und einem Kaffee ruft er Krautwuchs, die frisch gebackene Head of Corporate Development & Future Readiness, an. Die Dame wurde ihm vom Aufsichtsrat aufs Auge gedrückt. Jetzt kann sie sich mal beweisen.
„Wir brauchen einen Purpose“, sagt er knapp.
„Das wollte ich Ihnen auch am Montag vorschlagen“, flötet sie.
„Passt. Setzen Sie eine Taskforce auf. Ergebnislieferung am Freitag in vier Wochen von 09.00 bis 09.10. In meinem Büro.“
Das war’s. So delegiert man.
Krautwuchs legt los. Es war ja wirklich an der Zeit. Klar ist: Sie muss ein breit gefächertes, buntes, um nicht zu sagen diverses, Team an Mitarbeitenden aufstellen, das den Purpose des Unternehmens bottom-up und mit hoher Partizipation entwickelt. Das betrifft alle, da müssen auch alle. Geht gar nicht anders.
Nach unzähligen Telefonaten mit Kollegen, Vorgesetzten und Keyplayern hat sie eine Liste. Die passt. Muss so sein. Elf Leute. Quer durch die Organisation. Zwei HRlerinnen, ein Customer-Journey-Evangelist, drei zufällig verfügbare Leute aus dem mittleren Management, die kurz vor der Pensionierung stehen, eine interne Influencerin mit 253 LinkedIn-Followern (Tendenz steigend), ein Young Talent (Alter 34), der Diversity-Beauftragte, ein „Data Storyteller“ (was auch immer das ist) und ein Personalvertreter.
Eine Einladung an all die Erkorenen geht raus. Betreff: „Taskforce Purpose. Kick-off“. Absender: Mag. Krautwuchs, Head of Corporate Development & Future Readiness. Im Text: „Jetzt ist es an der Zeit, unser gemeinsames Warum neu zu denken.“
Nicht das Was. Nicht das Wie. Das Warum. Darum geht’s.
Im Attachment: eine bunte Einladung mit goldenen Kreisen, in der Mitte ein Smiley. Darunter: „Wir wollen den Purpose unserer Organisation partizipativ neu definieren. Ihre Teilnahme ist ein Zeichen für Engagement und kulturelle Reife.“
Krautwuchs macht im Internet den King of Purpose am Beratermarkt namens S. B. Freit aus. Einen Anruf später ist er gebucht. 65.000 Euro für vier Wochen Begleitung. Ein Schnäppchen. Deal.
Der erste Workshop: Flipcharts. Post-its – mehrfarbig und in unterschiedlicher Größe. Nach einer zweistündigen Einschulung über das richtige Abreißen von Post-its geht es in einen Design Thinking-Prozess. Jeder darf sagen, warum er morgens aufsteht. Die Vielfalt ist beeindruckend: „Um einen Unterschied zu machen.“ „Um Menschen zu verbinden.“ „Um mein volles Potenzial zu entfalten.“ „Weil es Schnitzel gibt.“ „Weil ich muss.“ (Das war der Personalvertreter.) Man entschied sich für den Weg einer Synthese. Und weitere Workshops.
Nach drei Wochen Purpose-Journey, sechs Workshops, 1287 Post-its, 37 Pivotierungen und einer Kollision mit dem Betriebsurlaub in der Logistik hat man sich auf sechs Statements geeinigt.
Es kommt zum abschließenden Showdown. Drei Tage in einem Fastenkloster. Abgeschottet von der Umwelt. Kein Handy. Kein Laptop. Alles analog. Betraut mit der gewaltigen Aufgabe, das Ganze auf ein einziges Purpose-Statement zu verdichten.
Die drei Tage sind gefüllt mit Loslassübungen, mentaler Reinigung, innerer Kontemplation, Schweigen, Gruppenmeditationen, Yoga, Outdoor-Programmen zur maximalen Entspannung und einer veganen Speisekarte. Alles, um das beste Ergebnis zu erzeugen. Alles, um aus sechs eins zu machen. Als die Zeit knapp wird, einigt man sich darauf, zu würfeln. Das Ergebnis:
„Wir entfalten Wirkung durch integratives Erleben von Kundenmehrwert.“
Die Taskforce Purpose ist am Ende. Die hätten jedes Ergebnis akzeptiert. S. B. Freit hat seine Schuldigkeit getan. Er kann gehen. Schreibt eine Rechnung. Jetzt muss Krautwuchs das nur mehr mit Kippler abstimmen.
Freitag, 09.00–09.10: Der Termin dauert zwei Minuten. Acht Minuten lang kann Krautwuchs sich am Kopf kratzen. Vor dem Büro. Kipplers Reaktion: „Zu sperrig. Ich übernehme ab hier.“
Krautwuchs raus und Kippler geht kacken. Das hilft immer. Er hat noch die Kommunikationsabteilung. Die sollen da was machen. Nach dem Prozess und einem Kaffee ruft er S. Prechblasen, Chef der Kommunikation, an.
Ich brauche ein Purpose-Statement für die Firma.“
„Das wollte ich Ihnen auch am Montag vorschlagen.“
„Passt. Vorschlag am nächsten Freitag, 09.00–09.10.“
Das war’s. So delegiert man Sachen.
Prechblasen hat am Mittwoch einen Abendessentermin mit einem befreundeten Markenberater, Rufname Joschi. In einer Vinothek in Grinzing entsteht beim fünften Achterl GrüVe:
„Mit Leidenschaft und Exzellenz gestalten wir die Zukunft – agil, resilient und datengetrieben.“
Passt. Man trinkt noch ein Achterl drauf, damit es eine runde Sache ist.
Freitag, 09.00–09.10. Der Termin dauert weniger als zwei Minuten. Kipplers Reaktion: „Das ist zu lang. Ich übernehme ab hier.“
Prechblasen raus, Kippler geht kacken. Das hilft immer. Schlagartig wird ihm klar: Der Purpose ist Chefsache. Das kann man nicht delegieren. Wie blöd sind denn diese Krautwuchs und der Prechblasen, dass sie das nicht erkannt haben. Er öffnet auf seinem Handy ChatGPT und lässt sich zehn Purpose-Statements generieren. Hängen bleibt er bei:
„Unsere DNA ist geprägt von kollaborativem Leadership, nachhaltiger Wirkung und einem klaren Why.“
Das gefällt ihm. Das nimmt er.
Habemus Purpose. Weißer Rauch. Kippler informiert sein Führungsteam per Mail. Ein Event zur Verkündung des Purpose-Statements mit der Belegschaft wird geplant.
Diesmal keine Müsliriegel, aber die Bildschirmschoner werden wieder umgebaut.
Im Townhall-Meeting regnet das Purpose-Statement in Form von Flyern vom Himmel.
Mit viel Händeschütteln bedankt sich Kippler auf der Bühne bei den Mitgliedern der Taskforce Purpose für das wunderbare, so partizipativ erarbeitete Ergebnis.
Krautwuchs arbeitet ab sofort direkt für den Aufsichtsrat. Prechblasen bleibt. Zumindest das Sommerfest muss noch organisiert werden.
Alle Mitarbeitenden erhalten einen USB-Stick mit dem Purpose abgebildet, ein Purpose-Notizbuch und eine Purpose-Anstecknadel. Im Intranet wird der Purpose mit einem kurzen Video von Kippler verkündet.
Ein übermotivierter Praktikant im Einkauf bestellt Klopapier für die nächsten sechs Monate – mit aufgedrucktem Purpose-Statement. Kippler wird das Statement überall hin verfolgen. Allen anderen ist spätestens jetzt klar, wofür es wirklich gut ist.
Learnings
Die Geschichte ist eine Fortsetzung der Pisar Studie #004 Mindset Change. Wieder einmal maßlos übertrieben. Es tut mir leid.
Hier ein paar Learnings zu dieser Geschichte:
- Die Suche nach dem Purpose ist zum Selbstzweck geworden. Niemand fragt, wie das Problem heißt, das ein Purpose Statement löst. Hauptsache, wir haben einen.
- Die Partizipation ist eine reine Inszenierung. Die Auswahl der Vertreter willkürlich.
- Die Suche nach dem Purpose ist eine Beraterindustrie. Anstatt nach den wirklichen Problemen in einem Unternehmen zu fragen, diese kontextsensitiv zu betrachten und anzugehen, ist es natürlich viel leichter der Führung eine Purpose Journey zu verkaufen. Da kommt dann gleich das Feigenblatt mit. Übung erledigt. Habemus Purpose.
- Die Folgen dieses Vorgehens sind gar nicht hoch genug einzuschätzen. Mitarbeitende spüren, was ernst gemeint ist und was nicht. Feigenblätter führen zu Ablehnung und Zynismus. Wer, als Führungskraft, strebt an, nicht ernst genommen zu werden?
Ich weiß, dass das Thema Purpose ein heißes Topic ist. Die Frage nach dem Sinn ist emotional aufgeladen und noch dazu unscharf in der Begrifflichkeit (Warum, Wozu, Sinn, …) und ist mit dem englischen Begriff Purpose auch noch „lost in translation“. Somit ist das Feld für eine Vielzahl an Meinungen eröffnet und der Boden für missverständliche Auseinandersetzungen bereitet.
In der Physik gibt es keinen Sinn, zumindest kenne ich keine derartige physikalische Größe. Die Frage, warum es eine Gravitation gibt, ist eine Frage der Metaphysik.
Die Evolution, als eine wesentliche Theorie des Lebens, kennt keinen Sinn. Stark vereinfacht: Mutation – Selektion. Ohne Sinn. Ziellos.
Der individuelle Sinn des Menschen (nach Frankl) hat sich als evolutionärer Vorteil herausgestellt. Kein Zweifel daran.
Das Ganze auf Organisationen zu übertragen, ist verlockend. Es gibt zahlreiche Studien, die große Samples auswerten, und die darauf hindeuten, dass Unternehmen mit einem Purpose wirtschaftlich erfolgreicher sind. Eine Frage ist, wie ein Purpose im konkreten Kontext gestaltet und gelebt werden muss (Klarheit, Authentizität, Verzahnung mit Strategie, Kultur und Führung, Messbarkeit, etc.), damit seine Vorteile zur Geltung kommen.
Artikel erschienen am 11.06.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19776119/der-purpose