#19 – Agile Rollback

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 2 / Folge 9.

Vor drei Jahren hat Katzenkrauler ein agiles Leadership-Training absolviert. Einen halben Tag, das hat gereicht. So schwer ist das nicht. Alle mussten das in der Firma machen. Also alle Teamleiter. Den Gruppen- und Abteilungsleitern war es freigestellt. Darüber hinaus ohnehin nicht notwendig. Da haben nur wenige Zeit gefunden in der operativen Hektik. Auch verständlich – die haben wirklich viel zu tun, also Meetings und so. Lediglich der Badeschaum, Gruppenleiter mit nur einem Teamleiter darunter, der ganz viel Zeit hat, hat sich damals reingesetzt. Hat nur seinen Urlaub geplant und kaum zugehört.

Drei Jahre lang hat Katzenkrauler sein Team agil geführt – alle siebzehn Mitarbeitenden. Jetzt ist es ja nicht so, dass man da gleich einen Scrum Master dafür nominieren würde – der fehlt in der Umsetzung. Also hat Katzenkrauler die Funktion des Product Owners und des Scrum Masters übernommen. Das geht schon. Außerdem machen sie nicht Scrum. Sein Team bearbeitet Tickets, die ihnen in einem Ticketsystem zugewiesen werden: dort etwas einrichten, da ein Zertifikat einspielen, eine Installation durchführen. So Zeug. Die Tickets kommen ungeplant, da hat Katzenkrauler gleich erkannt, dass Scrum nicht das Richtige ist. Außerdem hat der Kursleiter das in einer Kaffeepause gesagt. Sie machen Kanban.

Sie haben sich in einem aufwändigen Brainstorming-Prozess den Teamnamen „Avengers“ gegeben. Das hat ihnen gefallen – also fast allen. Zwölf waren schon enttäuscht, die wollten lieber „Justice League“, aber Katzenkrauler war für „Avengers“. Man kann es als Teamleiter nicht allen recht machen.

In seinem Büro hat er jetzt einen Sitzsack. Es sitzt nie jemand drin. Man kann kaum aufstehen. Was würde das für ein Bild machen, wenn ein Mitarbeiter da drinnen lümmelt, während Katzenkrauler an seinem Schreibtisch sitzt? Weggeben kann er ihn nicht – den haben alle Teamleiter verpflichtend bekommen.

Katzenkrauler hat gemeinsam mit seinem Team das Kanban-Board definiert, wo zusätzlich zum Ticketsystem die Aufgaben auf bunten Post-its erfasst werden. Sie haben auch gemeinsam die Farbe der Post-its bestimmt, welche Farbe was bedeutet und wie das Board genau aufgebaut ist. Anfänglich hat das super funktioniert. Es sind alle immer in sein Büro gekommen, egal wie weit sie durch das Gebäude laufen mussten, und haben Post-its geschrieben. Wenn sie im Home Office waren, haben die Leute sich ein Ticket angelegt, um dann ein Post-it zu schreiben. Hat super funktioniert – so drei Wochen. Dann hat Katzenkrauler seine Mannschaft immer erinnern müssen, dass sie ihre Karterl schreiben. Kurz vor dem zweiwöchentlichen Stand-up, das für drei Stunden angesetzt ist, schickte Katzenkrauler immer drei Tage, zwei Tage und einen Tag vor dem Termin Erinnerungsmails aus. Das macht es ein bisschen besser. Zumindest jene, die nicht im Home Office sind, hängen dann kurz vor dem Stand-up noch ihre Karterl auf das Board. Die Leute im Home Office nehmen über Teams teil, können aber leider das Board nicht sehen. Halb so schlimm.

Im Stand-up berichten ihm alle, was gerade läuft. Er weiß es zwar bereits, weil er aus dem System täglich Reports bekommt, aber das macht man so in Agile. Für den einen oder anderen ist es vielleicht langweilig, bis alle 17 durch sind, aber da kann man nichts machen. Dafür kann man gleich einen Deep Dive in die Themen machen, dann kommen eben nicht alle 17 dran. Eigentlich kommen nie alle 17 dran.

Einmal alle drei Monate macht Katzenkrauler mit seinem Team eine Retrospektive. Das hat er auch so gelernt. Statt dem Stand-up – da weicht er gerne mal vom Gelernten ab. Er hat sich sogar ein Buch gekauft: 54 Methoden, um eine Retrospektive abzuhalten. 23 hat er schon ausprobiert. Sein Team liebt es, weiß er. Wenn es allerdings darum geht, dass die Leute auch Actions übernehmen sollen, dann ist das schon schwieriger. Das meiste bleibt bei ihm hängen – und da hängt es dann auch, bis es vergessen wird. Klaus hat mal was übernommen. Seine Eltern haben eine Konditorei und jetzt bringt er zu jeder Retrospektive was Süßes mit. Vielleicht liebt sein Team deswegen die Retrospektive.

Die sonstigen Teammeetings, die er vor der Umstellung eingeführt hatte, hat er mal so belassen. Sicher ist sicher. Irgendwann müssen sie auch organisatorisch arbeiten.

Im Training hat er gelernt, dass „Agile“ die Mitarbeitermotivation und die Produktivität hebt. Die Produktivität ist leider zurückgegangen, wie er in seinen System-Reports sieht. Aber das ist ja auch verständlich, weil man jetzt zusätzlich „Agile“ macht. Das kostet auch Zeit: Karterl schreiben, Tickets zum Karterl-Schreiben schreiben, Stand-ups, Retrospektiven. Aber das muss sein.

Die Mitarbeitermotivation ist auch gesunken. Die Leute haben nach drei Jahren noch immer nicht den Mehrwert erkannt. Lediglich Bernd ist Feuer und Flamme. Bernd hat sich in das Thema reingetigert und ganz viel dazu gelesen. Bernd würde auch gerne den Scrum Master machen, aber sie machen halt nicht Scrum. Bernd schlägt den Titel „Kanban Master“ vor. Katzenkrauler ist aber nicht bereit, Bernds Arbeitskraft dafür einzusetzen. Leider geht Bernd den anderen auf die Nerven mit seinem Feuereifer. Ziemlich auf die Nerven. Man möchte fast sagen, dass er sich als agil Erleuchteter sieht und den anderen bei jeder Gelegenheit predigt, wie super das nicht alles ist – und noch sein könnte. Bernd isst meist allein zu Mittag.

Die Mitarbeitenden stehen noch immer bei Katzenkrauler und beschweren sich über die üblichen Dinge wie dreckige Klos, zu wenig Gehalt, Überstunden, schlechte Kantine. Er versteht nicht, warum „Agile“ und die damit einhergehenden Freiheiten sie nicht darüber hinwegsehen lassen. Im Training hätte er das so gelernt.

Leider müssen er und sein Team weiterhin die gleichen Leistungsreports wöchentlich ausfüllen. Das hat sich nicht geändert. Sein Gruppenleiter Löwenzahn kann da auch nichts machen, weil sein Abteilungsleiter Tigerbeißer weiterhin darauf besteht. Aber das kennt man schon, da gibt es ein eigenes Team-Meeting mit allen dafür.

Drei Jahre führt Katzenkrauler jetzt agil. Drei lange Jahre. Letzte Nacht hat er nicht schlafen können und sinniert, warum sich weder die Motivation noch die Produktivität verbessert haben. Die Antwort ist klar: das agile Zeugs wirkt nicht. Seine beiden Teamleiterkollegen Mäuselack und Hamsterrad berichten Ähnliches, als sie letzte Woche auf ein Bier waren. Die denken beide darüber nach, wieder direkter zu führen. So wie früher. Command & Control wieder einführen. Ganz weg war es ja nie, wenn man ehrlich ist. Die Zeiten werden tougher, da muss man auch als Teamleiter wieder mehr Verantwortung übernehmen. Da kann man nicht alles auf das Team abwälzen. Er wird mit Löwenzahn, seinem Gruppenleiter, reden, ob er das nicht alles wieder einstampfen kann. Der Löwenzahn war ohnehin nie ein Fan davon.

Nur das Süße – das kann ja Klaus trotzdem weiter bringen.

Learnings

Agilität in dieser Form zu leben ist, wie einen Pflasterstein mit Sonnencreme einzuschmieren. Die Learnings daraus sind fast schon banal:

  • Ein kurzes Führungskräftetraining reicht nicht aus, um tiefgreifende Veränderungen im Führungsstil und der Teamkultur nachhaltig zu bewirken. Lediglich die Teamleiter-Ebene einzubinden und den Rest gleich zu belassen, verhindert einen durchgängigen Effekt.
  • Die sinnbefreite Anwendung von agilen Methoden on-top wird zu keinen Verbesserungen führen, insbesondere wenn diese nicht die bestehenden Strukturen zumindest zum Teil ersetzen.
  • Die stupide Befolgung des Regelwerks nur um „agil“ zu sein führt zur Demotivation. Da braucht es schon ein bisschen mehr.
  • Andererseits: Die Anpassung der Methoden muss schon gut überlegt sein. Dazu ein grundsätzliches Verständnis der Methoden erforderlich.
  • Die Dezentralisierung von Verantwortung erfolgt nur am Papier.
  • Agil als den Heilsbringer, der alleine durch die Einführung, alle Probleme löst, ist eine viel zu verkürzte Sicht.
  • Ein Fahrrad wird kein Ferrari, nur weil man es in die Garage stellt. Genauso wenig machen ein paar bunte Sitzsäcke und ein Wuzzler eine Organisation agil.
  • In Summe kann man sagen, ein agiles Feigenblatt wie es im Buch steht. 

Waren Sie schon einmal in einer Organisation, in der „Agilität“ in ähnlicher Form eingeführt wurde? Welche Effekte haben sich dadurch eingestellt?

Sind Sie vielleicht aktuell in einer Organisation, in der in den letzten Jahren Agilität zwar am Papier gelebt wurde, in der jetzt gewisse Methoden auch wieder zurückgenommen werden? 

Was sind die genannten Auslöser dafür und was hätte man vielleicht in der Vergangenheit besser machen können?

Hinterlassen Sie uns gerne Ihre Fragen, Gedanken und Anmerkungen dazu in einem persönlichen E-Mail.

Artikel erschienen am 21.05.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19701200/agile-rollback

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