#15 – Micromanagement

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 2 / Folge 5.

Aurelia hat alles im Griff. Sie handelt strategisch.

Sie ist Managerin eines kleinen Teams im HR-Bereich. Sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aurelia weiß von jedem, was er macht – zu jeder Zeit.

Aurelia ist dem Unternehmen verpflichtet, und sie weiß, dass sie dem Unternehmen jede Minute ihrer Mitarbeitenden schuldet, nicht nur ihre eigenen. Ihre Pflicht ist es, sicherzustellen, dass jeder Mitarbeitende zu jeder Minute arbeitet. Dafür werden sie bezahlt. Ihre strategische Aufgabe ist es, das sicherzustellen. Das hat sie fest im Griff.

Aurelia hat für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter eine strategische Actionliste, in der jeder Task erfasst wird. Damit ist sichergestellt, dass sie genau weiß, was ihre Mitarbeitenden tun. Damit ist sichergestellt, dass jede Deadline eingehalten wird, die notwendig ist, damit ihr Team nach außen immer perfekt erscheint. Aurelia hat selbst eine Actionliste, die kennt nur sie. Einmal in der Woche gibt es einen Jour fixe, in dem Aurelia mit allen sieben Mitarbeitenden die Actionlisten im Detail durchgeht. Seit Kurzem heißt der Termin nicht mehr Jour fixe, sondern Stand-Up. Es werden Deadlines angepasst, Inhalte aktualisiert, Status verändert, neue Actions erfasst. Manchmal werden auch Actions abgeschlossen. Das macht nur Aurelia. Nur sie hat den strategischen Weitblick, zu bestimmen, wann eine Action tatsächlich abgeschlossen ist.

Aurelia hat alles im Griff. Sie handelt strategisch.

Sie ist restriktiv beim Thema Home Office. Sie weiß, dass Mitarbeitende zu Hause nichts arbeiten, sondern Wäsche waschen, den Geschirrspüler ausräumen, die Kinder bespaßen, Hausübungen mit ihnen machen, staubsaugen und vieles mehr. Das ist Aurelia ganz klar – sie macht es ja selbst nicht anders. Deswegen bekommt eigentlich niemand Home Office. Streichen wir das „eigentlich“.

Aurelia ist die beste Expertin. Also, das ist sie, weil sie die Chefin ist. Das muss schon so sein, sonst wäre sie ja nicht die Chefin ihrer sieben Mitarbeitenden. Das sagt schon allein ihre Position.

Natürlich dürfen die Mitarbeitenden eigenverantwortlich arbeiten und ihre Aufgaben, die sie von Aurelia bekommen, allein erledigen: Anfragen beantworten, Fälle abarbeiten. Sofern alles mit Aurelia abgestimmt ist. Abstimmung ist alles. Sie kommuniziert dann die Ergebnisse nach außen. Nur sie. Die Wirkung nach außen ist alles. Die Qualität nach außen ist alles. Das ist strategisch wichtig. Das kann nur Aurelia.

Aurelia stellt auch sicher, dass die Inhalte, die ihre Mitarbeitenden produzieren, qualitätsgeprüft sind. Nichts wird in ihrem Team erstellt, ohne dass sie es freigibt. In einzelnen Ausnahmen erlaubt sie es ihren Mitarbeitenden, auch mit der Umwelt direkt zu kommunizieren. Eigentlich nur einem Mitarbeiter, der schon 20 Jahre im Team von Aurelia arbeitet. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass er Aurelia in CC nimmt, um sicherzustellen, dass sie über jeden Schritt informiert ist.

Aurelia hat alles im Griff. Sie handelt strategisch.

Die Jahresziele für ihre Mitarbeitenden sind einfach. Jedes Jahr das Gleiche: Wir führen eine Actionliste. Was sonst? Die Ziele sind erreicht, wenn die Actionliste ordnungsgemäß und pflichtgemäß von den Mitarbeitenden geführt wird. Das ist wichtig. Details sind wichtig, Qualität ist wichtig. Aurelia hat alles im Griff. Sie handelt strategisch.

Einmal im Quartal gibt es eine interne, strategische Klausur, in der die Teamstruktur und die Teamstrategie besprochen werden. Der Termin heißt „Retrospektive“. Der Workshop ist immer mühsam, weil die Mitarbeitenden nicht motiviert sind, hier konstruktiv beizutragen. Sie sind es nicht gewohnt, strategisch zu denken – so wie Aurelia. Die Ergebnisse überleben selten die nächsten Tage, außer es sind operative Themen, die in der Actionliste landen. Operative Actions fallen nie durch den Rost. Grundsätzliche Themen zur Teamstimmung oder zur generellen Aufgabenverteilung werden leider von den Mitarbeitenden oft nicht weiterverfolgt. Aurelia handelt strategisch – da lässt sie den Mitarbeitenden freie Hand. Das Gute daran ist, dass immer wieder die gleichen Themen in den Retrospektiven kommen. Somit sind die Inhalte für den nächsten Termin sichergestellt. Es gibt genug ergebnisbefreit und umfassend zu diskutieren.

Aurelia kümmert sich auch verantwortungsbewusst um die Mitarbeiterentwicklung. Sie sorgt dafür, dass sich die Mitarbeitenden weiterbilden. Ab und zu. Also einmal im Jahr. Einer. Weniger ist mehr, weil sich das alles negativ auf die operative Arbeitsleistung auswirkt. Sie erstellt die Ausbildungspläne. Da sie im Unternehmen die beste Chefin ist, ist auch klar, dass sich die Mitarbeitenden bei ihr am besten entwickeln. Jobwechsel aus dem Team in andere Positionen außerhalb ihres Teams findet sie nicht so gut, da sie dann ihr Investment in die Mitarbeitenden verliert. Das hat sie bis jetzt aus strategischen Überlegungen immer gut unterbinden können – zum Wohle des Unternehmens.

Aurelia hat alles fest im Griff. Sie handelt strategisch, rein strategisch. Sie ist eine super Chefin.

Für ihre Mitarbeitenden ist sie eine schreckliche Bestie.

Learnings

Ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass es solche Führungskräfte in der Wirklichkeit gibt. Das wäre unterste Regionalliga der Führung oder noch darunter. Aber nur rein fiktiv, es gäbe sie doch, ein paar Learnings (in Summe könnte man dazu ganze Bücher füllen):

  • Mikromanagement ist keine Strategie. 
  • 100 Prozent Auslastung ist kein Ziel. Das ist eine Autobahn mit Stau und die ist nicht sehr effektiv.
  • Mikromanagement ist die Manifestation der eigenen Unsicherheit und des eigenen Stresses als Führungskraft im täglichen Handeln. Ich, als Führungskraft, bin die Einzige, die weiß, wie es wirklich geht. Das kann sonst niemand.
  • Actionlisten für Mitarbeitende zu führen, ist der Inbegriff von Mikromanagement. Das Ganze als Ziel zu formulieren, verstärkt das Signal: Du hast deine Arbeit nicht im Griff. Ich vertraue Dir nicht.
  • Die Home Office-Regelung reflektiert ihr eigenes Verhalten.
  • Die Folgen sind offensichtlich
    • Kein Engagement
    • Keine Eigenverantwortung
    • Keine Motivation
    • Die Liste hat noch viele Einträge.
  • Motivation entsteht durch die Möglichkeit zur Weiterentwicklung (nicht gegeben), durch Autonomie (die hat Briefmarkengröße) und durch regelmäßige Erfolgserlebnisse (die heimst Aurelia ein). 
  • Retrospektiven dieser Form sind Pseudo-Wirkungsbefreit.
  • Mitarbeiterentwicklung und Weiterentwicklung im Unternehmen zu unterbinden, kleidet sich nur logisch in das Bild ein und zeugt von dem eigentlichen Egoismus und der Unsicherheit, der sich dahinter verbirgt.

Hatten Sie schon mal eine Führungskraft, die ähnlich agiert hat? Wie haben Sie sich gefühlt? 

Wie führen Sie selbst Ihre Mitarbeitenden? 

Wieviel Freiraum haben diese? 

Wie unterstützen Sie diese bei Ihrer beruflichen Entwicklung?

Hinterlassen Sie uns gerne Ihre Fragen, Gedanken und Anmerkungen dazu in einem persönlichen E-Mail.

Artikel erschienen am 22.04.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19606624/micromanagement

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