Stifterl ist seit wenigen Tagen neu in der Firma. Er wird als tougher Projektleiter geholt. Es eilt ihm ein Ruf voraus. Nach wenigen Tagen Einarbeitung übernimmt Stifterl das schwierigste Projekt in der Abteilung. Das Ding war noch nie etwas anderes als „rot“. Die Projektmitarbeiter sind top ausgelaugt. Sie bekommen nur Beton. Das Projekt hat bereits zwei Projektleiter verschlissen. Stifterl soll es jetzt richten. Dazu ist er da. Das ist sein Ruf. Das Projektsteering hat ihn dazu geholt.
Stifterl weiß, was von ihm erwartet wird. Er strahlt gnadenlose Energie aus. Wenn er über den Gang geht, dann hört man ihn schon von weitem. Er geht schneller und lauter als die anderen. Er hinterlässt Eindruck, zumindest im Gangteppich. Er kommt früher als die anderen und bleibt länger. Stifterl zeigt Einsatz.
Erstes Projektmeeting. Ein kleiner Raum im heißen Sommer, der Beamer trägt sein Nämliches zum Temperaturanstieg bei. Die Projektmitarbeiter drängen sich um den kleinen Tisch. Stifterl ist schon fünf Minuten vorher da. Er ist der Erste, nicht nur sinnbildlich. Der Erste von den anderen. Er wartet, bis alle eingetroffen sind und krempelt sich die Ärmel seines Hemds auf. Er packt an, das muss auch gezeigt werden.
Stifterl weiß, wie er mit der Horde von geprügelten Mitarbeitern umgehen muss. Zuerst aufrichten und dann ausrichten. Er zeigt Verständnis für ihre ausweglos scheinende Situation. Er zeigt Verständnis für die Unsinnigkeit des Zeitplans. Er zeigt Verständnis für den Wahnsinn an Scope, der gefordert ist. Er hört sich das alles an und nickt vertrauensvoll. Ich packe an. Ich bin einer von euch. Wir schaffen das. Gemeinsam.
Danach zieht er sich auf seinen Arbeitsplatz zurück und geht die Projektunterlagen durch. Er strafft nochmals den Zeitplan um zwei Monate und erweitert den Scope, um dreißig Prozent. Das Projektteam muss er dazu nicht befragen, die erfahren das schon früh genug. Jetzt sind sie aufgerichtet. Jetzt werden sie ausgerichtet.
Damit geht er in das Projektsteering am nächsten Tag und präsentiert den neuen Plan. Die Steeringmitglieder sind begeistert. Deswegen haben sie Stifterl geholt. So muss das.
Zwei Monate später sind zwei der Projektmitglieder im Burnout. Eine langjährige Mitarbeiterin hat das Unternehmen verlassen. Der Rest ist gut sichtbar in der inneren Kündigung angekommen. Stifterl ist noch immer da. Stifterl wird noch immer von den Steeringmitgliedern hoch gelobt. Immerhin haben sie ihn ausgesucht. Sie irren nie. Das Projekt ist mittlerweile in gestockten Blutfarben, aber wie sollte es auch anders sein? Bei dem Team.
Learnings
- Eine Führungskraft, sei es in der Linie oder in einem Projekt, hängt immer maßgeblich von der Leistung des Teams ab. Motivation entsteht nicht durch Worte und Gesten allein. Motivation entsteht in einem vertrauensvollen Klima, in dem die Leute Autonomie haben, in Entscheidungen eingebunden sind und regelmäßige Erfolgserlebnisse einfahren.
- Vertrauensaufbau ist essenziell. Alleingänge zerstören das Vertrauen nachhaltig. Stifterl hätte Vertrauen aufbauen können, indem er mit dem Team einen Plan entwickelt, die Verantwortung dafür übernimmt und sich vor das Team stellt.
- Ein ambitionierter Plan heißt noch lange nicht, dass er hält.
- Personalentscheidungen, wie die des Steerings, werden ungern zurückgenommen und genauer betrachtet, weil sich die Steeringmitglieder einen Fehler eingestehen müssten. Leichter ist es für sie, die Schuld auf das ohnehin schon schlecht angeschriebene Team abzuschieben.
Wie oft haben Sie schon aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Rollen eine ähnliche Situation erlebt? Wie oft haben Sie eine Personalentscheidung getroffen, die sich nach kurzer Zeit als unpassend herausgestellt hat, Sie aber noch lange daran festgehalten haben? Haben Sie schon am eigenen Leib erlebt in einem vertrauensvollen Umfeld zu arbeiten im Gegensatz zu einem nicht vertrauensvollen?
Artikel erschienen am 15.01.2025 in der „Presse“: https://www.diepresse.com/19254799/der-antreiber