#42 – Hierarchie-Oxytozin

Thomas Pisar – satirisch – über Führen und Geführtwerden. Staffel 5 / Folge 2.

Ochsenzeichner ist in seinem Metier. Meeting mit seinem Chef Draller. Auftragsannahme Meeting, könnte man auch sagen. Ochsenzeichner braucht diese Meetings. Dort bekommt er die Aufmerksamkeit. Dort bekommt er Zuwendung. Dort bekommt er sein Oxytozin.

Draller verteilt Ideen wie eine Weihnachtssprühkerze. Er hat wieder mal ein Buch über das Wochenende gelesen oder zumindest reingelesen. Die Essenz daraus unterstützt all sein Denken über Management. Er nimmt sich immer das aus Büchern, das seine Meinung unterstützt. Grundsätzlich ist Draller der Schlaueste. Das weiß er. Schließlich sitzt er an den Hebeln der Macht. Er ist der Einzige, der alles weiß. Sonst kann keiner richtig liegen. Nur er. Alle anderen sind willfährige Erfüllungsgehilfen. Je ideenbefreiter, desto besser. Ein Pferd hat einen größeren Kopf als ein Mensch. Mitdenken unerwünscht. 

Ochsenzeichner ist sein Pitbull Terrier, den er sich hält. Ochsenzeichners Titel sind vielfältig, Chief of dies, Chief of das, Chief of einigem mehr. Teil der Elite. In Wahrheit ist er der Assistent von Draller, darf keine einzige Entscheidung treffen, darf aber überall draufhauen. Ohne weitere Verantwortung. Sein Realitätsverzerrungsfeld kalibriert er in der Früh jeden Tag aufs Neue.

Es ist Freitag. Freitagnachmittag. Draller gibt Ochsenzeichner vier Aufträge mit, die er bis Montag um 09.00 Uhr vorbereiten soll. Ochsenzeichner nickt nur, holt sich die Aufmerksamkeit seines Chefs ab. Das ist sein Oxytozin. Damit kann er später ruhig ins Wochenende wechseln. Zuhause hat er leider nichts zu entscheiden. Zuhause hört ihm keiner zu.

Er wartet noch bis 19.00 Uhr, dann ruft er seine Mitarbeiterin A. Chewnazek an. Die soll wissen, wie viel Ochsenzeichner arbeitet und wann er erst Zeit für sie hat. Ochsenzeichner gibt die Aufträge von Draller 1:1 an Chewnazek weiter. Er weiß, dass Chewnazek das Wochenende durcharbeiten muss. Das ist der Preis, wenn man so nahe an der Macht sitzt. Das muss Chewnazek auch spüren. Das lässt er sie nicht vergessen. Es ist eine Auszeichnung, eine Ehre.

Draller ist schon lange zuhause. Ochsenzeichner ist am Weg aus dem Büro. Chewnazek sitzt noch bis 21.00 Uhr und fährt dann heim. Sie wird ihrem Mann erklären, dass sie die Grillparty mit Freunden absagen müssen. 

Alle drei, Draller, Ochsenzeichner und Chewnazek wissen, dass sie am Montag ganz sicher nicht über diese vier Aufträge reden werden. Über das Wochenende wird Draller wieder ein neues Buch gelesen haben.

Learnings

Hardcore, die Geschichte. Da möchte man niemanden kennen, der sowas erlebt hat. Was können wir unter anderem daraus lesen

  • Menschen handeln in Organisationen nicht nur rational, sondern stark abhängig von den sozialen Systemen, in denen sie eingebunden sind. Ochsenzeichner bezieht seine Motivation nicht aus dem Inhalt seiner Arbeit, sondern aus der Aufmerksamkeit von Draller. Diese Anerkennungsökonomie ist typisch für Organisationen: Aufmerksamkeit wirkt als „Währung“. 
    Führungskräfte unterschätzen oft, wie stark psychologische Grundbedürfnisse wie Zugehörigkeit, Bedeutung und Anerkennung das Verhalten ihrer Mitarbeitenden beeinflussen.
  • Es zeigt sich eine hierarchisch geprägte Delegationskultur, bei der Verantwortung nach unten weitergegeben wird, ohne dass echte Entscheidungskompetenz mitdelegiert wird. Ochsenzeichner ist zwar „Chief of“ alles Mögliche, aber real darf er nichts entscheiden. Er wiederum reicht alles 1:1 an Chewnazek weiter.
    Organisationen erzeugen oft formale Macht ohne faktische Verantwortung, ein dysfunktionales Muster, das zu Verwirrung, Frust und Überforderung führt.
  • Ochsenzeichner lebt in einer kognitiven Dissonanz: Er glaubt an seine Wichtigkeit, obwohl sein Verhalten auf komplette Fremdsteuerung hinweist. Das System hat ihn so sozialisiert, dass diese Illusion erhalten bleibt. Organisationen haben die Tendenz, sich selbst stabil zu halten, unter anderem auch durch kollektive Illusionen.
    In starren, hierarchischen Systemen entstehen oft Selbsttäuschungen, um das psychische Gleichgewicht der Beteiligten aufrechtzuerhalten. Diese verhindern jedoch echte Veränderung.
  • Die eigentlichen Aufgaben sind bedeutungslos. Keiner glaubt, dass sie erledigt oder genutzt werden. Dennoch werden sie mit vollem Druck „nach unten“ weitergegeben. Das führt zu einer Erzeugung von Aktivität ohne Wirkung, einem klassischen Symptom organisationaler Absurdität.
    Organisationen neigen dazu, Prozesse am Leben zu erhalten, selbst wenn deren Output irrelevant ist, weil die Struktur und Machtlogik es so verlangt.
  • Die Verhaltensmuster von Draller, Ochsenzeichner und Chewnazek bilden eine rekursive Schleife: Druck → Delegation → Frustration → Verdrängung. Keiner durchbricht sie, weil jeder glaubt, selbst nicht am Hebel zu sitzen.
    Ohne Reflexion und bewusste Interventionen wiederholen sich destruktive Muster automatisch. Systemische Veränderung erfordert, diese Muster sichtbar zu machen und neue Kommunikationswege zu etablieren.

Die Szene offenbart eine Organisation, die stark auf Status, Scheinverantwortung und Druckmechanismen basiert, allerdings mit keinem echten Interesse an Ergebnisqualität oder Sinnstiftung. Das System funktioniert gerade deshalb, weil sich alle nach den gleichen (toxischen) Spielregeln richten.

Kennen Sie eine ähnliche Organisation? Waren Sie schon mal in der Position, wo Sie sich an Aufträgen abgearbeitet haben, von denen klar war, dass sie in der Rundablage landen werden? Kennen Sie Personen, deren Eigen- und Fremdbild so stark divergiert?

Artikel erschienen am 27.10.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/20247029/hierarchie-oxidozin

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