Wenn Klaus ein Vogel wäre, dann wohl ein Kuckuck. Klaus ist schon seit 15 Jahren bei der Lorsch GmbH. Er hat dort direkt angefangen, nachdem er sein Lehramtsstudium für Turnen und Geografie im zwölften Semester abgebrochen hatte. Er ist durchaus ansehnlich, mit seinen langen blonden Haaren, die er zu einem losen Zopf zusammengebunden hat, seinem hellen Dreitagebart und seiner schlanken Figur, die darauf hinweist, dass er sehr gerne Sport macht: Rennradfahren, Laufen und im Sommer Windsurfen. Sport mag Klaus. Arbeiten mag Klaus nicht.
Klaus hat auch einen gewissen Charme, wenngleich dieser nur auf eine bestimmte Sorte mittelalterlicher Frauen wirkt. Jessica ist so eine mittelalterliche Frau und Jessica ist Klaus’ Vorgesetzte bei der Lorsch GmbH. Klaus weiß um seine Wirkung und weiß sie gut zu nutzen. Denn eines mag Klaus nicht: arbeiten.
Im Laufe seiner 15 Jahre bei der Lorsch GmbH hat er die unterschiedlichsten Verfahren entwickelt, um sein tägliches Arbeitspensum zu minimieren, ohne dass es Jessica auffällt. Im Gegenteil. Klaus ist der am längsten dienende Kollege unter Jessica und somit so etwas wie ihr Stellvertreter. Ganz sicher ist er nicht auf der gleichen Stufe wie die anderen. Er ist da schon ein bisschen höher.
Klaus wohnt sehr weit vom Büro entfernt. Also, er müsste tatsächlich 25 Minuten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Door to door. Kaum zumutbar, meint Jessica. Sie hat ihm angeboten, drei bis vier Tage im Home Office zu arbeiten. Geht fast gar nicht anders, bei seinem Arbeitspensum, meint auch Klaus. Die anderen Kolleginnen und Kollegen haben dieses Privileg nicht. Die haben nicht diese langjährige Betriebszugehörigkeit. Denen kann man nicht trauen. Die müssen auf Tagesbasis kontrolliert werden. Vielleicht brauchen sie Hilfe und da will man als Führungskraft nicht fehlen.
Bis vor ein paar Monaten war alles cool für Klaus. Dann ist diese Neue gekommen. Daniela. Teilzeit. Hat ein kleines Kind, eine Tochter. Die war mal früher was, diese Daniela. Was Größeres. Wahrscheinlich größer als Klaus, vielleicht sogar größer als Jessica.
Klaus wittert die Gefahr für seinen Status. Diese Daniela weiß schon nach zehn Minuten am ersten Tag mehr als er.
Aber Klaus weiß sich zu helfen. Vielleicht kann sie ihm sogar nützlich sein.
Klaus: „Ich hab da ein super Thema, an dem du die Lorsch GmbH gut kennenlernen kannst, Dani.“
Schon ist die Aktualisierung der Liste der Top-500-Kunden weg von seinem Schreibtisch.
Er kümmert sich auch so wunderbar darum, dass Daniela schnell Fuß fassen kann, meint Jessica.
Klaus: „Hat sich schon wer den neuen Auftrag angesehen, der von der KLH reingekommen ist? Hast du die KLH nicht während meines letzten Krankenstands abgewickelt, Dani? Ich muss nächste Woche Jessica vertreten, oder Jessica? Kannst du die KLH auch gleich erledigen, Daniela?“
Schon ist die Arbeit bei Daniela.
Klaus: „Ich muss die nächsten drei Wochen konzentriert an dem Quartalsreport arbeiten.“
Anmerkung: Als Daniela das einmal übernehmen musste, hat es sie drei Stunden gekostet. Nicht drei Wochen.
„Ich schalte meinen Abwesenheitsassistenten ein. Ich hab mit Jessica abgestimmt, dass ich dich da reinschreibe, als meine Vertretung, Dani.“
Schon kann er weitere 300 Kilometer am Rennrad abspulen. Im Frühstücksfernsehen haben sie schönes Wetter angesagt. Wäre ja schade. Alles berufliche Zeit, die man privat viel besser nutzen kann.
Klaus: „Ich habe aktuell gar keine Ressourcen, wegen der Nachfrage der JIHA AG. Ihr wisst, dass das einer unserer Prio-1-Kunden ist. Da muss ich mich darum kümmern. Oder, Jessica?“
Nicken von Jessica.
„Dani, kannst du mir bitte die Angebotserstellung für die ASKAT GmbH abnehmen? Das hast du ja schon einmal in meiner Vertretung gemacht.“
Ein 300-Seiten-Konvolut. Der Inbegriff des Horror-Angebots.
Zwei Wochen später im gemeinsamen Abteilungs-Jour-Fixe die Nachfrage:
Klaus: „Dani, hast du die ASKAT GmbH eigentlich erledigen können?“
Daniela: „Natürlich, ist seit einer Woche draußen.“
Klaus: „Ich frage nur, weil du gestern erst so spät ins Büro gekommen bist. Geht es deiner Tochter wieder besser?“
Jessica hebt die Augenbrauen.
Eine perfekte Melange aus Delegation, Proaktivitätsvortäuschung und subtiler Diffamierung. Klaus weiß diese Klaviatur zu spielen wie kein anderer.
Erst als er für drei Monate ausfällt, weil er einen kleinen Bandscheibenvorfall auskurieren muss – ehrlich, das kann schon dauern, und er will ja einen Rückfall zum Vorfall vermeiden – geht sogar Jessica ein Licht auf: Daniela erledigt die ganze Arbeit. Auch wenn Klaus da ist.
Aber wer gesteht sich schon gerne ein, jemanden fünfzehn Jahre lang falsch eingeschätzt zu haben. Da ist es schon besser, sich von Daniela zu trennen. Die stört ja doch nur.
Learnings
In der fiktiven Geschichte kommen gleich mehrere Dinge zusammen: eine schwache Führungskraft, ein eingesessener Mitarbeiter mit Selbstoptimierungspotential und eine neue, kompetente Mitarbeiterin.
- Aus der Führungskraftperspektive ist eine einigermaßen faire Behandlung aller Mitarbeitenden unabdingbar. Es kann keinen „ersten Ritter“ geben. Ein klarer Blick auf die Leistungen und Beiträge aller ist eine Voraussetzung dafür.
- Privilegien wie Home-Office dürfen nicht ohne driftigen Grund ungleich verteilt sein.
- Dazu muss man auch die eigenen blinden Flecken versuchen aufzudecken. Worauf reagiert man persönlich, wie? Ist man für Schmeicheleien zugänglich? Wo wird man mit dem sprichwörtlichen Tee angeschüttet?
- Loyalität ist nicht gleich Leistung.
- Wenn jemand ständig wegen wichtiger Projekte seine eigentlichen Aufgaben an andere verschiebt, dann liegt ein strukturelles Problem der Zuständigkeiten vor.
- Wenn man ein Ungleichgewicht beobachtet, dann muss man einschreiten.
- Wer sich nicht eingestehen kann, eine Situation falsch beurteilt zu haben, verschärft das Problem. Lieber spät als nie.
- Aus Mitarbeitender-Perspektive kann man nur versuchen, durch Abgrenzung, Sichtbarkeit und klare Kommunikation ein klares Bild zu zeichnen. Fakten helfen, zumindest in einem rationalen Milieu. Wenn das nicht mehr der Fall ist, kann man sich noch immer überlegen, ob man an diesem Arbeitsplatz langfristig glücklich wird.
Kennen Sie einen Kollegen oder eine Kollegin, deren stärkste Kompetenz die Delegation zur Seite ist?
Haben Sie in einem Ihrer Teams so einen Kuckuck sitzen, der anderen seine Eier ins Nest legt?
Wie adressieren Sie das Thema?Wie oft haben Sie schon innerlich Bullshit-Bingo gespielt, während andere diskutiert haben?
Artikel erschienen am 20.08.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/20013457/ein-netter-kollege

