Krammer ist vierundzwanzig Jahre alt. Sie hat in sehr kurzer Zeit in Wien Jus studiert, wenn man bedenkt, dass sie nebenbei auch noch zwei Jobs hatte. Krammer war immer schon auf sich gestellt. Allein. Krammer ist fleißig und verantwortungsbewusst. Krammer ist ihrer Position gemäß immer perfekt gekleidet. Sie ist attraktiv. Sie ist blitzgescheit.
Ihren ersten richtigen Job hat sie bei einem der größten Energieversorger des Landes bekommen. Sie ist die Assistentin des Vorstands Mayrhuber. Nicht eine Assistentin, sondern die Assistentin. Sie führt nicht nur seine Agenda, sie ist auch für seine Kommunikation zuständig und verfasst in wichtigen Meetings die Protokolle. Sie ist der Schatten von Mayrhuber. Im Büro und bei seinen beruflichen Abendterminen. Krammer ist perfekt.
Im dritten Monat ihres Dienstverhältnisses findet eine Aufsichtsratssitzung statt. Krammer protokolliert. Es ist ihre erste Aufsichtsratssitzung. Sie weiß nicht, was sie genau in das Protokoll schreiben wird. Das wird sie später mit Mayrhuber abstimmen. Also schreibt sie alles mit. 1:1. Ungeschönt. Unzensuriert.
Kruttmann: „Wenn Fahrndorf nicht bald in die Gänge kommt, dann müssen wir uns dort etwas personell überlegen.“
Lodritsch: „Fahrndorf erkennt die Situation nicht. Er ist viel zu abgehoben. Der packt das nie.“
Mayrhuber: „Fahrndorf ist einfach ein gewaltiges Arschloch.“
So steht es in der 1:1 Mitschrift von Krammer. So würde das nie im offiziellen, politisch korrekt formulierten Aufsichtsrat Protokoll landen. Mayrhuber hat Druck gemacht, das Protokoll müsse unbedingt noch am gleichen Tag versendet werden. Mit diesem Druck im Hinterkopf verfasst Krammer direkt nach der Sitzung eine erste Version und schickt sie an Mayrhuber zur Begutachtung. Es ist ihr erstes Protokoll einer Aufsichtsratssitzung. Mayrhuber meldet sich per Mail mit einigen Anmerkungen. Zusätzlich ruft er Krammer an und macht Druck, dass das Protokoll endlich raus muss. Die Ersten fragen schon danach. Sie solle es an den Verteiler für Aufsichtsrat Protokolle verschicken, sobald sie die Änderungen eingearbeitet hat. Noch diesen Abend. Keine weiteren Rückfragen mehr bitte. Raus damit. ASAP. Der offizielle Verteiler enthält nicht nur Sitzungsteilnehmer, sondern auch noch weitere Empfänger. Fahrndorf steht auch auf dieser Liste.
Als Krammer die Punkte von Mayrhuber in das offizielle, politisch korrekt formulierte Protokoll der Aufsichtsratssitzung eingearbeitet hat, erstellt sie das E-Mail zum Protokoll. Eine heikle Sache. Sie fügt alle Sitzungsteilnehmer plus den zusätzlichen Verteiler ein. Zum Schluss hängt sie das Protokoll als Attachment an. Glaubt sie. 1,32 Sekunden nach Drücken des Senden-Buttons ist Krammer klar, dass sie die Original-Mitschrift im Attachment angefügt hat. Kein Rückgängigmachen möglich. Das ist 1:1 so raus. Punkt. Aus.
Am nächsten Tag ist sie um 07:00 im Büro. Sie erwartet ihre Kündigung. Was sonst. So etwas ist unverzeihlich. Mayrhuber kommt um 07:53 ins Büro. Es sind lange 53 Minuten für Krammer. Mayrhuber verzieht die Mundwinkel leicht nach unten: „Das wollte ich dem Fahrndorf ohnehin schon immer sagen, dass er ein gewaltiges Arschloch ist. Somit ist das auch erledigt. Muss ich mich nicht mehr bemühen. Danke, Frau Krammer.“
Er druckt das Protokoll aus, hängt es neben die Fotos seiner Kinder und geht zum ersten Tagesordnungspunkt über.
Learnings
Geschichten, die das Leben so oder so ähnlich schreibt. Ein paar Learnings daraus:
- Der massive Zeitdruck von oben, gepaart mit fehlender Erfahrung unten, führt fast zwangsläufig zu Fehlern. Nicht die Kompetenz entscheidet, sondern die Umstände.
- Verantwortung muss mit Macht kommen – nicht nur mit Ansage: Mayrhuber will das Protokoll schnell – ohne Rückfragen, ohne Kontrolle. Damit überträgt er Verantwortung, entzieht aber jede Möglichkeit zur Absicherung. Das ist keine Delegation, das ist ein Abschieben.
- Fehlerkultur beginnt beim Umgang mit Konsequenzen. Krammer erwartet die Kündigung. Stattdessen kommt ein grinsender Vorstand, der sich über den „Fehler“ freut. Nicht, weil es richtig war, sondern weil es in seine Agenda passt. Fehler sind nicht zwangsläufig das Problem – sondern ihre Wirkung, insbesondere auf Machtstrukturen.
- Jedes Schrifterl ein Gifterl. Kommunikation ist nicht nur, was gesagt wird, sondern was schriftlich und nachhaltig festgehalten wird. Die digitale Verfügbarkeit hat anderenorts schon den einen oder anderen Politiker den Kopf gekostet.
- Umgekehrt ist nicht jeder Fehler katastrophal. Was im ersten Moment als gewaltiges Problem aussieht, hat morgen bereits seine Schrecklichkeit verloren und diffundiert recht rasch Richtung Vergessen.
Haben Sie schon mal einen fulminanten Bock geschossen, der Ihnen im ersten Moment das Herz in die Hose rutschen hat lassen, der aber recht schnell seine Bedrohlichkeit verloren hat?
Wie gehen Sie mit Fehlern Ihrer Mitarbeitenden um und insbesondere, wie gehen Sie mit den Mitarbeitenden um, wenn diese am Boden zerstört sind?
Hinterlassen Sie uns gerne Ihre Fragen, Gedanken und Anmerkungen dazu in einem persönlichen Email.
Artikel erschienen am 02.04.2025 in der „Presse„: https://www.diepresse.com/19477855/home-office